Forschen mit Scheuklappen

Frank Niessen über systemkonforme Wirtschaftswissenschaften an den Unis

Frank Niessen ist promovierter Volkswirtschaftler, doch er verzichtete auf eine akademische Karriere, 
weil das Fach seiner Ansicht nach versagt hat. In seinem im Marburger Tectum Verlag erschienenen Buch »Entmachtet die Ökonomen! Warum die Politik neue Berater braucht« (166 S., 17,95 €) plädiert er für eine grundlegende Reform der Wirtschaftswissenschaften. Ein Interview.
Herr Niessen, wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten doch eine akademische Karriere eingeschlagen? Dann hätten Sie die Wirtschaftswissenschaften von innen heraus kritisieren können. So wird es diesen leicht fallen, Ihr Buch zu ignorieren.
Mit meinen alternativen Forschungsinteressen und meiner systemkritischen Sichtweise hätte ich fast nirgends eine Chance auf eine Anstellung gehabt. Und dem Mainstream, dessen Arbeitsweise ich aus tiefster Überzeugung für falsch halte, konnte und wollte ich mich einfach nicht anpassen. So bleibt mir heute nichts anderes übrig, als die Wirtschaftswissenschaften von außen zu kritisieren – zumindest aber als jemand, der sie von innen her kennengelernt hat.

Was sind Ihre zentralen Kritikpunkte an der Volkswirtschaftslehre?
In meinem Buch stelle ich zwei Kritikpunkte heraus. Zum einen unterstelle ich der akademischen Volkswirtschaftslehre methodische Defizite. Volkswirte wollen das wirtschaftliche Handeln von Menschen und Institutionen, also einen sozialwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand, mithilfe von naturwissenschaftlichen bzw. mathematischen Instrumentarien analysieren und beschreiben. Das führt nicht nur zu völlig absurden, realitätsfremden Modellierungen, sondern auch zu einer Fixierung auf formale Details. Und solange sich Ökonomen für kleinteilige mathematische Probleme interessieren, stellen sie kaum grundlegende oder kritische Fragen über die sozialökonomische Welt, in der sie leben.

Und zweitens?
Zum anderen unterstelle ich den Ökonomen, mit ideologischen Scheuklappen zu forschen. Damit meine ich, dass sie unser Geld- und Wirtschaftssystem einfach als gegeben annehmen. Sie suchen dementsprechend auch nur nach solchen Krisenlösungen, die innerhalb des bestehenden Geld- und Wirtschaftssystems funktionieren. Das wäre ja auch nicht schlimm, solange diese Forschungen zu vernünftigen Ergebnissen führen würden. Ich fürchte aber, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem »systemkonforme« Wirtschaftspolitik die Krisen nicht mehr beseitigen kann. Die meisten Krisen sind aus meiner Sicht systembedingt und deshalb bedarf es einer systemkritischen Sichtweise, die akademische Volkswirte aber nicht anzunehmen bereit sind.

Nach der Finanzkrise 2008 gab es Bestrebungen, gerade auch von jüngeren Wirtschaftswissenschaftlern, sich für mehr Pluralismus einzusetzen. Wie beurteilen Sie diese Bemühungen?
Schon seit dem Jahr 2000, als an der Pariser Sorbonne eine studentische Initiative eine »Post-Autistische Ökonomie« einforderte, hat sich dieses Bestreben nach mehr Pluralismus allmählich verbreitet. So weit ich das beurteilen kann, ist der Erfolg dieser Initiativen aber trotz Finanzkrise eher mäßig ausgefallen. Das ist sehr bedauerlich, denn im Aufbrechen der alten Forschungstraditionen und im Zulassen neuartiger und verschiedenartiger Perspektiven sehe ich den Schlüssel für eine positive Veränderung.

Sie kritisieren die Wachstumsgläubigkeit der Ökonomen – liberaler wie keynesianischer. Warum?
Wachstumskritik ist aus vielerlei Gründen angebracht. Das wohl stärkste Argument gegen weiteres Wachstum ist die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und Senken. Seit Forscher den »ökologischen Fußabdruck« ermitteln, wissen wir, dass wir jährlich mehr Ressourcen verbrauchen, als die Erde im gleichen Zeitraum reproduzieren kann. Das ist nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein ökonomisches Problem. Darum fordere ich von unseren Ökonomen, dieser Problematik endlich Rechnung zu tragen und zu erforschen, wie Krisen auch ohne Wachstum oder gar mit negativen Wachstumsraten gelöst werden können.

In diesem Zusammenhang packen Sie sogar das »heiße Eisen« Bevölkerungspolitik an.
Ausgangspunkt auch hier ist die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen. Wenn die Ressourcen knapp werden, kann die Gütermenge nicht mehr stetig wachsen. Wenn nun die (Welt-)Bevölkerung weiter wüchse, die Gütermenge aber nicht mehr, dann könnte das zu Verteilungskämpfen und Armut führen, weil sich immer mehr Menschen eine gleichbleibende Gütermenge teilen müssten. Insofern wäre die Bevölkerungskontrolle ein wirksames Mittel zur Armutsbekämpfung, sobald Wachstum nicht mehr möglich bzw. erwünscht ist. Das ist alles nichts Neues und auch nichts Kompliziertes, es ist nur politisch unkorrekt geworden, es offen zu sagen.

Sie gehen so weit, das Privateigentum an den Produktionsmitteln für nicht sakrosankt zu halten. Und ich habe Ihre Argumente so verstanden, dass die Ökonomen vor allem auch versagen, weil sie unser Geld- und Finanzsystem nicht radikal infrage stellen. Plädieren Sie für einen neuen sozialistischen Anlauf?
Die Eigentumsfrage und das Geldsystem sollte man getrennt sehen. Das Geldsystem sollte radikal infrage gestellt werden, weil es meines Erachtens zwangsläufig zu Verschuldungskrisen führt. Oder mit anderen Worten: Die aktuelle Schuldenkrise Europas halte ich zu großen Teilen für ein systemimmanentes Problem, es ist ein Resultat der Funktionsweise unseres Geld- und Bankensystems – und nur am Rande dem Versagen von schlecht haushaltenden Staaten anzulasten. Ich könnte mir vorstellen, dass eine Übertragung der Geldschöpfungshoheit an die öffentliche Hand – Stichwort: Monetative – ein sinnvoller Baustein für eine Neuordnung des Geldsystems sein könnte. Das ist aber noch nicht gleichbedeutend mit Sozialismus. Denn im ökonomischen Sinne bedeutet Sozialismus gleichsam die Kollektivierung sämtlicher Produktionsmittel, also nicht bloß einer Bank, sondern sämtlicher Unternehmen und Ländereien. Ich plädiere nicht unbedingt für ein solches System, weil es nicht zwingend notwendig ist, um die Krisen unserer Zeit zu lösen. Ich plädiere nur dafür, dass die Wirtschaftswissenschaft zumindest anerkennt, dass im Privateigentum an Produktionsmitteln gewisse Probleme liegen, die bei Kollektiveigentum weniger schwer wiegen würden.

In Ihrem Buch geben Sie sechs Empfehlungen, wie Armut und Umweltzerstörung abgeschafft werden könnten. Dazu gehören u.a. die Einführung eines Mindesteinkommens und die Beachtung von Naturgrenzen. Klingt gut, aber wer soll das durchsetzen? Und wie?
Ich habe diese sechs Empfehlungen mit dem ausdrücklichen Hinweis eingeleitet, dass sie nur als langfristig anzustrebende Ideale verstanden werden können und nicht etwa als konkrete politische Ziele für einen nahen Zeithorizont. Es ist im Übrigen auch gar nicht das Anliegen meines Buches, machtpolitische Strategien zur Realisierung bestimmter Wirtschaftspolitiken zu entwickeln. Es geht mir bloß darum, im Sinne einer wahrheitsorientierten Forschung herauszufinden, was ökonomisch getan werden könnte, um die Menschheit von Armut und Umweltzerstörung zu befreien. Die politische Umsetzung dessen ist zuvorderst ein Problem der Politik selbst, nicht eines der (Wirtschafts-)Wissenschaft. Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, dass wenn Ökonomen aller Länder ihre Regierungen zum international abgestimmten Ressourcenmanagement, zur Etablierung internationaler Verteilungsstrukturen und zur gegenseitigen Abrüstung raten würden, ein Prozess in die richtige Richtung angestoßen werden könnte, weil die Gipfeltreffen der Spitzenpolitiker dann womöglich von einer ganz anderen Tagesordnung geleitet würden, als das heute der Fall ist. Solange unsere Ökonomen hingegen meinen, den Politikern weiterhin Ratschläge erteilen zu müssen, wie die Wirtschaft am schnellsten wachsen kann, wird sich natürlich nicht viel ändern.

aus: neues deutschland, 5.3.2016

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