Westerwelle und die vielen kleinen, braven Leute

Nachdem Peter Sloterdijk für die bürgerliche Intelligenz vor kurzem „den Westerwelle machte“, indem er zum „fiskalischen Bürgerkrieg“ aufrief, demonstriert nun das Original mit seinen spätrömischen Dekadenzäußerungen über ein System, welches Menschen „anstrengungslosen Wohlstand“ verspricht, aufs Neue: Er ist der wahre Vorkämpfer im „dreißigjährigen Feldzug gegen den Sozialstaat“ (Hengsbach). Zwar gehört es zum guten Ton der politischen Elite, immer mal wieder die Stimmung gegen Arbeitslose zu schüren – erinnert sei an Philipp Mißfelders (CDU) Aussage, wonach die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie sei oder an Kurt Becks (SPD) Empfehlung an einen Arbeitslosen, sich zu waschen und zu rasieren, dann habe er in drei Wochen einen Job –, doch noch niemanden ist es gelungen, eine so heftige Diskussion auszulösen wie Westerwelle.

Der FDP-Vorsitzende geriert sich dabei als Tabubrecher, der es wagt auszusprechen, was die Mehrheit denke. Was ersteres betrifft, so hat er Unrecht – über das so genannte Lohnabstandsgebot wird nun wirklich permanent diskutiert, und die angeführten abwertenden Aussagen über Hartz-IV-Empfänger ließen sich beliebig ergänzen – etwa durch Thomas Gottschalks neuen Namen für Bierdosen: Hartz-IV-Stelzen. Die Konstruktion des Tabubruchs ist vielmehr ein beliebtes Mittel zur Selbstinszenierung, da es den vermeintlichen Tabubrecher als mutigen Vorkämpfer erscheinen lässt. Und zum anderen – darauf wies Sigmund Freud hin – negiert der Tabubruch präventiv genau das, was man sich selbst am innigsten wünscht: Man behauptet ein Tabu, das man in Wirklichkeit selbst errichten möchte.

Leider hat er jedoch Recht, was zweites betrifft: In großen Teilen der deutschen Bevölkerung herrschen tatsächlich Arbeitslose abwertende Einstellungen vor. Das zeigen die Ergebnisse der Langzeituntersuchung „Deutsche Zustände“ des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer. Vor wenigen Jahren hat dieses Projekt ihr Konzept der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ um einen Aspekt erweitert: die Abwertung von Langzeitarbeitslosen aufgrund unterstellter mangelnder Nützlichkeit. Hintergrund für diese Entscheidung ist ihre These, dass mit dem Übergang von der Marktwirtschaft zur Marktgesellschaft auch eine Ausweitung des ökonomistischen Denkens einhergehe, d.h. dass die eigenen Absichten und Vorhaben, soziale Beziehungen und der Austausch mit anderen mehrheitlich dem Nutzenkalkül untergeordnet werden. Heitmeyer und Co. sprechen von den „moralvernichtenden Effekten des dominierenden Marktes“ und sehen einen Zusammenhang zwischen der Ökonomisierung des Sozialen und der Abwertung bzw. der Aufkündigung der Gleichwertigkeit von Menschen.

Im Einzelnen haben sie festgestellt, dass zum Beispiel fast 50% der Befragten der Aussage zustimmen, die meisten Langzeitarbeitslosen seien nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu finden. Gar 61% der Befragten finden es empörend, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein bequemes Leben machen. Ferner stimmen tendenziell über ein Drittel der Deutschen zu, dass die Gesellschaft sich wenig nützliche Menschen (33,3%) und menschliche Fehler nicht (mehr) leisten (34,8%) könne. Diese Einstellungen, schreiben sie, haben „einen besonders starken Einfluß auf die Abwertung jener Gruppen des GMF-Syndroms, die unter dem Blickwinkel der Nützlichkeit und Effizienz markiert werden können: Das sind vor allem Langzeitarbeitslose, Obdachlose, Behinderte und Zuwanderer.“ (Heitmeyer 2008: 59)

Von besonderem Interesse ist ihre Beobachtung, dass diese abwertenden Einstellungen insbesondere von jenen vertreten werden, die selbst zu den unteren Schichten gehören bzw. aufstiegsorientiert sind, denen jedoch der berufliche Erfolg bislang verwehrt geblieben ist. Man müsse davon ausgehen, dass mit niedriger Soziallage das Bedürfnis wächst, sich von Personen am untersten Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen, indem man diesen eine negative Arbeitshaltung zuschreibt. Gleichzeitig spricht sich aber eine Mehrheit auch für eine Unterstützung der Erwerbslosen aus.

Zwei Jahre später, nach Einsetzen der globalen Wirtschaftskrise, konstatieren die Forscher um Heitmeyer eine positive Entwicklung: Sowohl die Verbreitung von ökonomistischen Einstellungen als auch die Abwertung von Langzeitarbeitslosen sei im Vergleich zum Jahr 2007 zurückgegangen. Indes: Es ist ein leichter Rückgang. So sind immer noch 33,6% der Meinung, in Krisenzeiten werden zu viele schwache Gruppen mitversorgt. Generell stellen die Forscher fest, dass sich bisher die Krise nicht negativ auf die Entwicklung der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ ausgewirkt hat (Heitmeyer 2010: 41). Noch nicht: Denn zu befürchten stehe, dass sobald die Wirtschaftskrise voll auf den Arbeitsmarkt durchschlägt und sobald infolge der enormen Staatsverschuldung soziale Leistungen gekürzt werden, die Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt sich deutlich verschärft. In diesem Falle ist auch erneut mit einer Zunahme von feindseligen Haltungen zu rechnen.

Genau das ist der Punkt, in dem kritische Beobachter den Kern der kommenden Auseinandersetzung sehen, der durch Thilo Sarrazins „Elitenrassismus“ (vgl. Wiegel), Sloterdijks fiskalischen Bürgerkrieg (vgl. von Lucke) und aktuell durch Westerwelle ideologisch präventiv bearbeitet wird: In Zeiten defizitärer Haushalte werden Kürzungen bei den sozial Schwachen für bürgerliche Regierungen eine unvermeidliche Folge sein. Und umso mehr wird die Ideologie gefragt sein: Sie muss „die Legitimierung sozialer Grausamkeiten“ leisten. Albrecht von Lucke konstatiert insofern – und das bestätigt der aktuellste Band von „Deutsche Zustände“ (Heitmeyer 2010: 84) – dass sich in der Mitte der Gesellschaft ein tief sitzendes Ressentiment gegen ethnische Minderheiten und sozial Schwache verfestigt.

Insofern verkörpert Westerwelle – ebenso wie Thilo Sarrazin (SPD), auf den folgendes Zitat gemünzt ist – „einen modernen, mit neoliberalen Ideologieelementen durchsetzten Wohlstandschauvinismus“ (Wiegel). Man kann es auch Sozialrassismus nennen: Der Schriftsteller Christoph Hein hat diesen essayistisch beschrieben: „Nein, wir sind nicht ausländerfeindlich, aber wir hassen die Armut. Und es ist leider wahr, dass viele von Euch besonders arm sind…. Dabei ist es uns völlig gleichgültig, ob jener Mensch mit diesem Bazillus der schrecklichsten Krankheit unserer Welt ein Ausländer oder ein Deutscher ist. Denn auch die Obdachlosen und Armen unserer Nationalität fürchten wir.“ (Hein 2004: 14f.)

Guido Westerwelles kalkulierte Auslassungen waren eine Reaktion auf die schlechten Umfragewerte seiner FDP. Diese sind mittlerweile wieder angestiegen. Insofern war Westerwelles Manöver erfolgreich: Kein Wunder, denn ca. die Hälfte der deutschen Bevölkerung teilt seine Ansichten in Bezug auf Hartz-IV-Empfänger. Bemerkenswert ist, dass die FDP mitnichten ausschließlich als Partei der Besserverdienenden oder als Mittelschichtspartei charakterisiert werden kann, obgleich sie mit ihrer Hotelierklientelpolitik auch dafür einen eindrucksvollen Beweis erbrachte. Vielmehr besteht Westerwelles Zielgruppe aus – so formuliert er es selbst – „kleinen, braven Leuten“, die morgens aufstehen und arbeiten.

Er zielt damit auf eine neue Spaltungslinie innerhalb der Gesellschaft: hier die (noch) in Lohn und Brot stehenden Leute und Steuerzahler, dort die alimentierten unproduktiven Transfereinkommensbezieher. Dass diese von ihm und anderen Eliten geschürten Vorurteile auf weit verbreitete Einstellungen in der Bevölkerung treffen, birgt ein bedrohliches Potenzial. Neu ist, dass eine derartige rechtspopulistische Kampagne aus einer Regierungspartei heraus initiiert wird. Doch offenbar erfordert Politik als Krisenverwaltungsmanagement infolge der Finanzkrise gerade diese neue Politikform.

Literatur:
Christoph Hein, Eure Freiheit ist unser Auftrag, in: Der Narr will nicht. Essais, Frankfurt/M. 2004
Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 6, Frankfurt/M. 2008
Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 8, Berlin 2010
Albrecht von Lucke, Propaganda der Ungleichheit, Sarrazin, Sloterdijk und die neue ‚bürgerliche Koalition‘, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2009
Gerd Wiegel, Eliten-Rassismus á la Sarrazin, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2009

(aus: www.sozialismus.de)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert