»Jedem seine eigene Scheiße«

Adam Toozes Buch »Crashed« wirft ein anderes Licht auf die Krisenfolgen von 2008

Als Angela Merkel Ende Oktober ihren Verzicht auf weitere Kandidaturen für den CDU-Vorsitz sowie das Kanzleramt bekannt gab, hoben linksliberale Kommentatoren ihre Verdienste um Europa hervor. Natürlich: Die Vergleichsfolien sind Orban, Kurz oder die rechtskonservative PiS-Regierung in Polen. Aber man sollte sich in Erinnerung rufen, dass Merkels Agieren infolge der Finanzkrise von 2008 und der sogenannten Eurokrise keineswegs eines Lobes würdig ist.

Im Gegenteil: Die Widerstände Merkels und ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble gegen weitere europäische Integrationsschritte, insbesondere in der Geld- und Fiskalpolitik, vertieften die Krise. Bis heute ist sie nicht ausgestanden. Polemisch ausgedrückt: Merkels Widerstand gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden, gegen Eurobonds und gegen eine keynesianische Konjunkturpolitik trieb Hunderttausende Menschen im Süden Europas in die Armut.

Das festzustellen, ist an sich nicht neu. Selten aber konnte man diese Kritik so ausführlich und im Detail begründet finden wie in dem Buch »Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt veränderten« des Wirtschaftshistorikers Adam Tooze. Der sich selbst als linksliberal bezeichnende und in New York lehrende Engländer geht insgesamt hart mit der europäischen Krisenpolitik ins Gericht. Als bezeichnend für das deutsche Agieren kann eine Aussage Merkels gelten, die der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy wiedergab: »Wenn wir keine europäische Lösung hinkriegen, wird es zu einer Katastrophe kommen … Aber es wird nicht meine Katastrophe sein, sondern Angelas. Wissen Sie, was sie zu mir gesagt hat? ›Chacun sa merde«‹ (›Jedem seine eigene Scheiße‹ …).« Das Beharren der deutschen Seite, dass die Kanzlerin keineswegs so vulgäre Worte wählte, sondern die Redensart Goethes »Ein jeder kehre vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier« zitierte, macht die Sache kaum besser.

Tooze beschreibt, wie die deutsche Regierung immer wieder ihr Ding durchzog. So im Jahr 2010, das der Autor als Wendepunkt bezeichnet. Früher als in anderen Krisen wurden konjunkturelle Programme eingestellt. Zwar beknieten die USA Merkel, mehr Geld auszugeben. Aber umsonst: Deutschland setzte mit der europäischen Schuldenbremse, dem Fiskalpakt, ein Rezept durch, das quälend langsam zu einer – unvollständigen – wirtschaftlichen Erholung führte.

Auch geopolitisch findet Tooze an der deutschen und europäischen Politik einiges auszusetzen. Im Ukrainekonflikt kritisiert er deutlich das Expansionsstreben der EU: »Unter den wohlklingenden Oberbegriffen ›Assoziierung‹, ›Kooperation‹ und ›Konvergenz‹ wurde einer instabilen Region, die unter hohem wirtschaftlichen und politischem Druck stand, ein schweres geopolitisches Gewicht auferlegt.«

Erwähnenswert ist zudem, dass Tooze ranghohe deutsche Beamte mit den Worten zitiert: »Beim Regimewechsel machen wir es besser als die Amerikaner.« Hintergrund dieser Äußerung: die Demontage der griechischen und italienischen Demokratie durch die von Deutschland und Frankreich betriebene Ablösung von Silvio Berlusconi und Giorgos Papandreou im Herbst 2011.

Im Zentrum von Toozes Buch steht jedoch die Erschütterung des transatlantischen dollarbasierten Finanzsystems durch den Lehmancrash 2008. Bis heute würden dieser und die ökonomischen und politischen Folgen die Welt entscheidend prägen, so seine These. Tooze zeigt dabei auf, dass europäische Banken noch stärker mit toxischen Finanzinstrumenten spekulierten und somit einen hohen Anteil am Krisenausbruch hatten – anders, als es hierzulande häufig dargestellt wird. Er bezeichnet die Reaktionen als »skandalöse staatliche Eingriffe zur Rettung privater Oligopolisten«. Die US-Politik infolge der Krise beschreibt er als ein bemerkenswert erfolgreiches »kapitalistisches Stabilisierungsprojekt« mit klassenorientierter Logik: »Schützt die Wall Street zuerst, um Otto Normalverbraucher kümmern wir uns später.«

Doch das hatte seinen Preis – und hier zeigt sich, dass der Autor das Politische an der Politischen Ökonomie hervorhebt: Nur mit den Demokraten konnte die Bush-Regierung die Verstaatlichung der Banken und die aufgezwungene Rekapitalisierung der Banken durchsetzen. Zahllose republikanische Abgeordneten liefen von der Stange. Hierhin sieht Tooze bereits einen wesentlichen Erklärungsfaktor für den Aufstieg Donald Trumps. Denn die Maßnahmen führten zur Spaltung der Republikaner und zum Aufstieg der rechten Tea Party. »Ein wiederauflebender Nationalismus, der die nationale Souveränität gegen Diktate von außen im Gefolge der Krise verteidigte, sollte eine der stärksten politischen Reaktionen auf die Krise sein«, stellt Tooze verallgemeinernd fest.

Tooze schildert die politischen Folgen der Finanzkrise für zahlreiche Länder. Auch geopolitische und internationale Konsequenzen werden von ihm berücksichtigt. Während gemeinhin den USA infolge der Krise eine schwächere Position zugeschrieben wird, hält Tooze dagegen. Der Dollar steht nach wie vor konkurrenzlos als Weltleitwährung da. Das liegt daran, dass die US-Notenbank Fed anderen Zentralbanken vor zehn Jahren riesige Dollarmengen zur Verfügung stellte. Gerade Europa profitierte von der Rolle der Fed als Liquiditätsbeschaffer für das globale Bankensystem.

Wenn es ein Standardwerk zu den Folgen der Finanzkrise geben sollte, dann ist Toozes Buch sicher ein Anwärter – zumal es hervorragend geschrieben ist.

Adam Tooze: Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben. Siedler-Verlag, München 2018. 800 Seiten, 38 EUR.

aus: analyse & kritik Nr. 643, 13.11.2018

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