Regierungsoffizielle Lügen

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Wir führen keinen Krieg. Aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.“

Mit diesen Worten wandte sich genau vor zehn Jahren der damalige Bundeskanzler der rot-grünen Bundesregierung, Gerhard Schröder (SPD), an die deutsche Öffentlichkeit – und in diesen wenigen Sätzen sind alle „regierungsoffiziellen Lügen“ (Oschlies: 95), die den ersten Kriegseinsatz Deutschlands nach dem Nazifaschismus legitimieren sollten, im Kern enthalten.

Für ihre detaillierte Umsetzung war insbesondere der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) mit seinen frei erfundenen Behauptungen von serbischen KZs, dem stümperhaft gefälschten Hufeisenplan, der angeblich eine systematische Vertreibung der Kosovaren durch serbische Truppen vorsah, den Phantasien von mit abgeschnittenen Köpfen Fußballspielenden Serben, Massenerschießungen etc. zuständig. Auf den Punkt gebracht hat diese Propagandastrategie hingegen der grüne Außenminister Joseph Fischer mit seiner Redewendung, im Kosovo gehe es darum, ein neues Auschwitz zu verhindern.

Auch zehn Jahre danach halten die damaligen Akteure im Wesentlichen an dieser Darstellung fest. Der GRÜNE Ludger Vollmer, zu Kriegszeiten Staatssekretär im Auswärtigen Amt und als Redner auf dem Sonderparteitag der Grünen in Bielefeld maßgeblich daran beteiligt, dass die grüne Basis ihrer Regierung freie Hand für den Krieg gab, schreibt in der neuesten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik: „Es drohte ein Völkermord. […] Die internationale Gemeinschaft stand also vor der Entscheidung, entweder den Wortlaut des Völkerrechts zu achten und Vertreibung und Völkermord mehr oder weniger tatenlos zuzuschauen. Oder aber den drohenden Völkermord auch mit Waffengewalt zu unterbinden und dabei gegen das geschriebene Recht zu verstoßen.“

Dieses Argument ist eine Variante des vom deutschen Staatsphilosophen Jürgen Habermas in seiner Stellungnahme zum Kosovo-Krieg elaborierter formulierten Arguments des übergesetzlichen Rechts, welches sich mit einem moralischen und ethischen Bezug über geltendes Recht hinwegsetzt. Joseph Fischer hatte noch 1994 vor genau dieser Gefahr gewarnt: dass die Bundesregierung an der „humanitären Nase“ in den Krieg gezogen werde. Fünf Jahre später sollte er dann mit seiner neuen Auschwitzlüge genau das vollziehen.

Der Bezugnahme auf übergesetzliche moralische und ethische Normen muss man indes zugestehen, dass eine richtige Frage gestellt wird, die unter bestimmten Umständen in der Tat zu bejahen und somit der Rechtsbruch zu vollziehen ist. Nichts ist allerdings weniger geeignet, diese Problematik am Beispiel des Kosovo-Konflikts zu diskutieren. Denn die Vorwürfe der systematischen Vertreibung und des Völkermords sind mit der Empirie völlig unvereinbar.

Das kann etwa in den Studien des ehemaligen Bundeswehrgenerals und OSZE-Mitarbeiters Heinz Loquai im Detail nachgelesen werden. Das hat im Jahre 2001 die WDR-Dokumentation „Es begann mit einer Lüge“ ebenfalls aufgezeigt. Diese provozierte sogar eine kleine Reaktion der Bundesregierung – wenngleich sie auch nur annähernd unter den leichtesten Druck geriet. Das lag vor allem daran, dass die vierte Gewalt im Staate – die Medien – ihrer staatstragenden Rolle vollauf gerecht wurden und diesen eigentlichen Skandal sondergleichen weitgehend ignorierten – und sich lieber um das Badevergnügen Rudolf Scharpings mit seiner neuen Geliebten kümmerten.

Dieser unheimliche kriegslegitimierende Konsens funktioniert bis heute – als hätte es die Aufdeckungen von Loquai, der WDR-Dokumentation oder des verstorbenen Hamburger Friedensforschers Dieter S. Lutz nie gegeben. Diese verwiesen ja gerade auf Berichte staatlicher Institutionen und internationaler Organisationen, die das völlige Gegenteil dessen enthielten, was die Politiker dann in der Öffentlichkeit sagten.

Ein paar Beispiele für diesen „unglaublichen Nebelvorhang von Lügen und Manipulationen“ (Oschlies: 95): Die US-Diplomatin im Kosovo, Norma Brown, sagt in „Es begann mit einer Lüge“: „Bis zum Begin der NATO-Luftangriffe gab es keine humanitäre Katastrophe“. Und Loquai schreibt: „Vertreibungen und Flüchtlingsströme setzten ein, nachdem die internationalen Organisationen das Kosovo verlassen und die Angriffe begonnen hatten. D.h. der Krieg verhinderte die Katastrophe nicht, sondern machte sie in dem bekannten Ausmaße erst möglich.“

Diese Einschätzung wird bestätigt durch die Lageanalysen des Auswärtigen Amtes (AA), aus denen Dieter S. Lutz bereits am 15. Dezember 2000 unter dem Titel „Krieg nach Gefühl“ im Feuilleton der FAZ, der Spielwiese der repressiven Toleranz, zitierte: Am 19. März 1999, also fünf Tage vor Kriegsbeginn hieß es in dem Bericht des AA: „UNHCR schätzt, dass bisher lediglich 2.000 Flüchtlinge im Freien übernachten müssen… Von Flucht und Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen. … Anders als im Herbst/Frühwinter 1998 droht derzeit keine Versorgungskatastrophe“. In dem vertraulichen Lagebericht der Nachrichtenoffiziere des Verteidigungsministeriums vom 23.3.1999 heißt es: „Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UCK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden.“

Zehn Jahre danach liegen mittlerweile Zahlen über die Opfer des Krieges gegen Jugoslawien vor. Die UN beziffert die Opfer auf albanischer Seite auf 4.019. Auf jugoslawischer Seite sind ca. 2.000 Zivilisten und 1.002 Militärangehörige zu Tode gekommen. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Todesopfer also auf über 7.000. 57% der Opfer waren Kosovo-Albaner und 43% waren Serben (vgl. Cremer: 67ff.). Von Völkermord kann also keine Rede sein, vielmehr von Bürgerkriegs- und Opfern der Luftangriffe – im Slang der NATO so genannte Kollateralschäden.

Sang- und klanglos wurde infolgedessen auch der Anklagepunkt des Völkermords gegen Slobodan Milosevic vor dem Tribunal in Den Haag fallengelassen. Auf die Nachfrage, warum denn das so sei, antwortet die Chefanklägerin Carla del Ponte schlicht: „Weil es keine Beweise dafür gibt.“ Auch der Vorwurf der ethnischen Säuberungen ist unbewiesen. Es gibt treffendere Gründe, die Ereignisse nach dem Einmarsch der KFOR-Truppen im Kosovo mit diesem Begriff zu beschreiben. Unter Augen der NATO-Truppen wurden bis heute 250.000 Nicht-Albaner – vornehmlich Serben, aber auch Roma – aus der nunmehr aus Serbien herausgelösten Provinz vertrieben und fast 9.000 verschleppt oder ermordet (Oschlies: 96).

Warum aber diese Lügen, an denen bis heute festgehalten wird? Was waren die Motive der rot-grünen Regierung, den NATO-Angriff gegen Jugoslawien zu unterstützen? Offiziell wird von den Akteuren angeführt, gerade der neu in Amt und Würden gekommenen rot-grünen Regierung sei es darum gegangen, die Bündnispflichten gegenüber ihren Partnern zu erfüllen, sprich Regierungsverantwortung zu zeigen. Oder wie Volmer es – übrigens auch im Hinblick auf eine baldige Regierungsbeteiligung der Linkspartei – formuliert: „Letztlich mussten Linke und Pazifisten lernen, dass sie in der real existierenden Staatenwelt mit hunderten Akteuren konfrontiert sind, die eine andere Weltsicht haben. Das erfordert nicht die Aufgabe der eigenen Haltung – aber es erfordert internationale Diskurs- und Handlungsfähigkeit.“ (92)

Hinzu kommt das, was Gerhard Schröder die „Enttabuisierung des Militärischen“ genannt hat. Aufgrund der Tatsache, dass von Deutschland zwei Weltkriege und Völkermord mit Abermillionen von Toten ausgingen, galt der Grundsatz: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Doch nach der Wiedervereinigung versuchte man, Schritt für Schritt diese geschichtliche Hypothek abzustreifen. Die Möglichkeit, mit der NATO für vermeintlich humanitäre Ziele einen Krieg zu führen, war 1999 dann die passende Gelegenheit. Nunmehr versteht sich die Elite als Repräsentant eines normalen Staates, der sein Recht auf Einflussvergrößerung in der globalen Staatenkonkurrenz eben auch mit Krieg und Militarisierung der Außenpolitik durchzusetzen legitimiert ist.

Der Grund der NATO, Jugoslawien anzugreifen, lag zudem darin begründet, dass nach dem Zusammenbruch der ehemals realsozialistischen Staaten zwar auch in Jugoslawien eine kapitalistische Transformation erfolgte, diese aber von einer serbischen Elite gesteuert wurde, die sich selbst bereicherte, den internationalen Akteuren hingegen den Zugriff auf ihre Märkte verweigerte. Dem entsprechend wollte die NATO Restjugoslawien mit der Herauslösung des Kosovo aus seinem Staatsgebiet schwächen, um so einen Regierungswechsel zu befördern. Beides ist nun geschehen. Auf der als Friedenskonferenz von Rambouillet bezeichneten, tatsächlich erpresserischen und damit kriegslegitimierenden Veranstaltung, wurde deshalb für das Kosovo eine mit den Prinzipien des freien Marktes übereinstimmende Wirtschaftsordnung versucht zu implementieren.

Und natürlich war ein weiteres Hauptmotiv der NATO – der USA vorneweg – das Agieren des nach dem Ende des Kalten Krieges etwas aufgabenlos dastehenden Bündnisses neu zu definieren: sprich weg von den Aufgaben einer Verteidigungsorganisation hin zu einem Bündnis, dass die ökonomischen und politischen Interessen seiner Mitgliedsstaaten weltweit und falls nötig eben ohne UN-Mandat wahrnimmt. Der Kosovo-Krieg war insofern ein Präzedenzfall. Mitten im Krieg gegen Jugoslawien gab sich die NATO auf ihrer 50-Jahr Feier eine entsprechende Strategie. Heute sind Kriege der NATO, der USA und Russlands ohne UN-Mandat an der Tagesordnung.

All das wurde von der rot-grünen Regierung nicht in Frage gestellt, sondern aktiv unterstützt. Insofern spricht vieles dafür, dass es nur diese vermeintliche Mitte-Links-Regierung sein konnte, die dieses zu vollziehen imstande war. Weil sie es verstand, Teile ihrer Basis in der Friedensbewegung, der ökologischen Bewegung und den Gewerkschaften in dieses Projekt zu integrieren. Unter einer schwarz-gelben Regierung wären sie vermutlich auf die Straße gegangen. Wie Volmer das mit der Wahrung der eigenen Haltung in Einklang bringen kann, bleibt freilich sein Geheimnis.

Literatur
Uli Cremer, Neue NATO: die ersten Kriege. Vom Militär- zum Kriegspakt, Hamburg 2009
Es begann mit einer Lüge, eine Dokumentation des WDR, unter: www.youtube.com/watch
Wolf Oschlies, Der illegitime Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2009, S. 93-99.
Ludger Volmer, Zehn Jahre Kosovokrieg, in Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2009, S. 85-92.

(aus: www.sozialismus.de)

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