»Populismus ist eine Reaktion auf Verteilungskonflikte«

Der Politikwissenschaftler Philip Manow erklärt, warum sich Protestparteien in einigen Ländern rechts und in anderern links positionieren. Ein Interview.

Herr Manow, Sie kritisieren in Ihrem Buch, dass die Debatte über Populismus ein Defizit hat: Sie wird zwar mit viel Moral und Leidenschaft geführt, aber ohne über den Kapitalismus zu reden. Warum ist letzteres wichtig?

Weil ich denke, dass der Populismus vor allem eine Reaktion auf Verteilungskonflikte ist. Moral hilft uns nicht zu erklären, warum wir in einigen Ländern eher linkspopulistische, in anderen eher rechtspopulistische Proteste und in einigen Ländern gar nichts dergleichen beobachten. Man will ja wohl nicht ernsthaft mit Völkerpsychologie argumentieren und zum Beispiel behaupten, dass Spanier, die in der Vergangenheit kaum rechtspopulistisch gewählt haben, irgendwie bessere Menschen sind als die Schweden, die zu 17 Prozent in der letzten Wahl die Schwedendemokraten gewählt haben.

Sie wenden sich gegen kulturalistische Deutungen des Populismus, nach denen etwa alte weiße Männer mit dem Wertewandel nicht zurechtkommen, und greifen einen Vorschlag des Ökonomen Dani Rodrik auf. Demnach ist Populismus ein Ausdruck des Protestes gegen die Globalisierung. Können Sie das erläutern?

In aller Kürze vertritt Rodrik die These, dass der populistische Protest gegen Globalisierung sich dort links zum Ausdruck bringt, wo die grenzüberschreitende Bewegung von Gütern und Geld als problematisch wahrgenommen wird. Die unregulierten Kapitalströme waren mitverantwortlich für den Ausbruch der globalen Krise von 2007ff. und damit auch für Eurokrise, die die europäische Peripherie besonders getroffen hat.

Und weshalb hat das den Linkspopulismus gestärkt?

Das südeuropäische Wachstumsmodell basierte viele Jahre vor allem auf heimischer Nachfrage, nicht auf Exporterfolg wie die nordeuropäischen Ökonomien. Bei einem Konjunkturabschwung haben sich südeuropäische Staaten verschuldet, um die heimische Nachfrage wieder anzukurbeln. In der Eurokrise wurden sie dann zu einer radikalen Sparpolitik gedrängt. Der Protest gegen diese Austeritätspolitik passt eher in die Programmatik von linken Parteien.

Und wann driftet der Protest gegen Globalisierung nach rechts?

Der Protest wird laut Rodrik dort rechtspopulistisch, wo nicht die grenzüberschreitende Bewegung von Kapital, sondern von Personen als problematisch wahrgenommen wird. Ich folge – mit kleineren Korrekturen – dieser These und wende sie an auf die in Europa offensichtlichen Protestmuster. Im Norden ist der Rechtspopulismus mit Parteien wie der Dänischen Volkspartei, Die Finnen oder Schwedendemokraten, der AfD, FPÖ oder der PVV von Gert Wilders stark. Im Süden sehen wir mit Syriza, Podemos und La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon einen starken Linkspopulismus.

Warum werden Migranten in Nordeuropa eher als Problem wahrgenommen als in Südeuropa, obwohl diese Länder viel ärmer sind?

Für nordeuropäische Ökonomien, das betrifft Deutschland ebenso wie skandinavische Länder, ist der Exportsektor entscheidend. Und exportorientierte Staaten haben im internationalen Vergleich eher einen generöseren Sozialstaat. Der sieht sich durch Migration viel grundsätzlicher herausgefordert als der Sozialstaat in Südeuropa. Zum Beispiel gibt es in Italien bislang keine Grundsicherung, die vergleichbar wäre mit Hartz IV. Viele Migranten arbeiten im informellen Sektor, ohne staatliche Unterstützung und haben nur begrenzten Zugang zu Sozialleistungen. In Deutschland dagegen ist der Sozialstaat für alle Bürger entwickelter, auch für Migranten. Das ist ein Thema, das eher die politische Rechte problematisiert oder skandalisiert.

In Frankreich gibt es sowohl eine rechts- wie eine linkspopulistische Partei. Spricht das gegen Ihre These?

Frankreich ist als Wachstumsmodell seit jeher zwischen dem Süden und dem Norden angesiedelt, weder völlig auf den Weltmarkt ausgerichtet, noch weder völlig auf heimische Nachfrage orientiert. Insofern finde ich es nicht so überraschend, dass wir hier sowohl Links- als auch Rechtspopulisten antreffen. Es gibt aber sicherlich auch von Land zu Land Besonderheiten, die nicht völlig in dem vorgeschlagenen Schema aufgehen, in Frankreich insbesondere die aus der Kolonialgeschichte herrührenden Konflikte um die starke muslimische Minderheit.

Sie haben die verschiedenen europäischen Populismen empirisch und vergleichend untersucht. Was sind die zentralen Ergebnisse?

Um nur einen Befund hervorzuheben: Im Großen und Ganzen schließen sich die gleichen Arbeitsmarktgruppen, die sich in Nordeuropa den Rechten zuwenden, in Südeuropa dem linkspopulistischen Protest an: nämlich sogenannte Arbeitsmarktinsider. Das sind Personen mit festen Stellen und gerade nicht die Marginalisierten, prekär Beschäftigten, die sich vielfach ganz von der Politik abgewendet haben. Das ist in meiner Wahrnehmung der deutlichste Hinweis darauf, dass die gängigen kulturalistischen Erklärungen, die uns angeboten werden wie, Arbeiter seien schon immer irgendwie alltagsrassistisch gewesen, nicht sonderlich weit tragen.

Kommen wir zum rechten Populismus des Nordens, der sich gegen Migration richtet. Sie argumentieren, dass die Reaktionen auf Migration nicht zu verstehen seien, wenn man ihre Verteilungseffekte ignoriert. Welche Verteilungseffekte hat die Migration in Deutschland?

Die sind – wenn wir jetzt im engeren Sinne über die Fluchtmigration reden – vielfältig, teils bezifferbar, was die Ausgaben von Kommunen, Länder, Bund oder der Sozialversicherungen angeht, teils weniger bezifferbar, beispielsweise was etwa die Effekte auf dem Wohnungsmarkt angeht. Der Sachverständigenrat schätzte für 2017 die öffentlichen Ausgaben auf etwa 50 Milliarden Euro. Schätzungen anderer Institute liegen auf etwa gleicher Höhe. Das ist aber vielleicht gar nicht so sehr das Thema und spielt auch für mein Argument keine zentrale Rolle.

Was ist es dann?

Was in Deutschland in der Bundestagswahl 2017 viel virulenter war, darauf deuten die Umfragedaten hin, ist, dass wir mit den Wohlfahrtsstaatsreformen der jüngeren Vergangenheit eine radikale Abkehr von der jahrzehntelang vorherrschenden Statussicherung hin zu einer sanktionsbewehrten Grundsicherung vollzogen haben. Das wurde gerade in Verbindung mit dem sehr hohen Zuzug von Migranten, die ja erstmal in weit überwiegender Zahl in dieser Grundsicherung landen, von vielen als Gerechtigkeitsproblem wahrgenommen. Hinzu kam die tiefe Verwunderung darüber, wie das offizielle »Wir müssen den Gürtel enger schnallen«-Mantra, das sich ja eigentlich die letzten zwei Jahrzehnte durchzog, so über Nacht für völlig obsolet erklärt werden konnte.

Das heißt, der Rückbau von Sozialleistungen ist der Nährboden, auf dem Rechtspopulismus gewachsen ist? Ohne diesen Rückbau hätte die AfD keine Chance gehabt?

Eine kontrafaktische Erklärung – was wäre gewesen wenn – ist nicht sonderlich seriös zu geben. Und eine These à la »Hartz IV ist für den Aufstieg der AfD verantwortlich« ist mir zu simpel und kurzschlüssig. Man muss sich ja schon dem Umstand stellen, dass sich die Arbeitslosigkeit seit 2005 halbiert hat. Aber dass die politische Verunsicherung nach 2015 nicht unabhängig zu sehen ist von der ökonomischen Verunsicherung, für die die Agenda ja vielleicht eher Symptom denn Ursache ist, denke ich schon.

Sie schreiben an einer Stelle von der »Lohnkonkurrenz in niedrigproduktiven Dienstleistungsberufen«. Deutsche Staatsbürger verdienen aber ohnehin mehr als Migranten und Geflüchtete können nicht uneingeschränkt eine Arbeit aufnehmen.

Das ist sicherlich richtig. Meine Erklärung für den deutschen und den skandinavischen Fall, wo die Rechtspopulisten ebenfalls reüssieren, stellt nicht primär auf Arbeitsmarktkonkurrenz ab. Diese spielt eher in völlig liberalisierten Arbeitsmärkten, etwa in den USA oder Großbritannien, eine Rolle, wo es gleichzeitig keine großzügigen Wohlfahrtsstaaten gibt. Für den kontinentalen Fall ist es eher Sozialstaats- als Arbeitsmarktkonkurrenz. Deswegen – so die Erklärung – sind es in den USA oder Großbritannien tendenziell eher sogenannte Arbeitsmarktoutsider, in Kontinentaleuropa eher sogenannte Arbeitsmarktinsider, also ganz regulär Beschäftigte, die das populistische Wählerreservoir prominent stellen.

Ist es nicht ein Widerspruch, von den Auswirkungen der Migration auf Verteilung und Lohnniveau zu reden – und dann zu zeigen, dass die Hauptwähler der AfD eben nicht die Abgehängten, das Prekariat oder die Globalisierungsverlierer sind? Sondern eher die regulär Beschäftigten, die gut über die Runden kommenden Arbeitsmarktinsider.

Es ist die Kombination aus deutlich erhöhter Beschäftigungsunsicherheit, dem Bewusstsein des schnell drohenden Abstiegs sowie dem als krisenhaft wahrgenommenen Zuzug von 2015ff. Die momentane Boomperiode täuscht nicht über das grundsätzliche Risiko des Arbeitsplatzverlustes hinweg.

Sie haben sich auch die osteuropäischen Staaten angesehen. Auch sie sind stark exportorientiert. Wie passen die in ihr Konzept?

Knapp zusammengefasst: In den osteuropäischen Staaten sehen wir vielleicht noch stärker als bei uns eine Lagerbildung aus Gewinnern und Verlierern der Globalisierung. Diese hat mit der Transformation ab 1990 den dortigen Gesellschaften fundamentale soziale Verwerfungen zugemutet, teils auch extreme neoliberale Experimente in der unmittelbaren Wendezeit. Die Interessen dieser Verlierer werden von den Rechtskonservativen in Polen und Ungarn – PiS und Fidesz -, aber auch von slowakischen oder rumänischen Sozialdemokraten vertreten. Insofern greifen unsere etablierten Kategorien, die nach links und rechts unterscheiden, teilweise nicht mehr. All diese Parteien, obwohl wir sie erstmal nach rechts und links einordnen würden, verbinden zumeist einen strikten sozialen Konservatismus und Nationalismus mit durchaus linker Sozial- und Umverteilungspolitik.

Tatsächlich?

Fragen Sie mal einen Abgeordneten der rumänischen Sozialdemokratie nach der Ehe für alle! Kurz gesagt: Die Populisten von Links und Rechts ähneln sich im Osten viel stärker als im Westen.

Konfliktverschärfend wirkt Ihnen zufolge das Beharren der EU auf die sogenannten vier Grundfreiheiten – dem freien Verkehr für Personen, Geld, Waren und Dienstleistungen. Ist die EU-Kommission, sind Merkel und Macron also selbst schuld, wenn bei den Europawahlen im Mai die Populisten vermutlich erneut weitere Siege feiern werden?

Nun, da es in diesem Lager wenig Selbstreflexion darüber zu geben scheint, was denn der eigene Beitrag zur starken gesellschaftlichen Polarisierung ist, würde ich auf Ihre Frage antworten: ja.

Wenn Populismus im Wesentlichen als Protestartikulation gegen die Globalisierung zu interpretieren ist: Was wäre zu tun, um einen weiteren Sieg der Rechtspopulisten zu verhindern: die De-Globalisierung vorantreiben?

Ja, das scheint überlegenswert – übrigens auch in Hinblick auf Linkspopulismus. Dani Rodrik, dem ich auch hierin durchaus folgen würde, hatte schon Ende der 1990er gefragt: »Has globalization gone too far?« Ich denke, so wie er, die Antwort auf diese Frage lautet in der Tendenz ebenfalls: ja.

Wie könnte denn die De-Globalisierung gefördert werden?

Nun, die Frage ob man bereits sehr niedrige Zölle immer weiter senken muss – und welchen Wohlstandsgewinn, vor allem für wen das Wohlstandsgewinn generiert -, kann man sich schon stellen. Und natürlich kann man fragen, wer welche verteilungspolitischen Kosten eines Modells trägt, das sich darauf kapriziert, Firmen zu exportieren und Arbeiter zu importieren.

aus: neues deutschland, 16.3.2019

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