Lenin, Stalin und der Terror

Richard Buchner, Terror und Ideologie. Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus und Stalinismus (1905 bis 1937/1941), Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2011, 546 S., 44 Euro

Dieses Buch liegt quer – in mehrerer Hinsicht. Den traditionellen Kommunisten wird es zu viel Schatten auf die Sowjetunion werfen. Antikommunisten wird die Anerkennung der humanen Ziele des Marxismus und die Berechtigung von Kapitalismuskritik aufstoßen. Marxisten wird der Bezug auf die Totalitarismustheorie stören. Akademische Historiker dürften sich an den ungenügenden Belegen und den moralischen Impetus reiben, während der historisch-politisch Interessierte mit durchschnittlichen Sprachkenntnissen die Berücksichtigung neuester russischer Studien zu schätzen weiß. Kulturpessimisten schließlich werden an dem offensichtlich nicht vorhandenen Lektorat Indizien für den Niedergang des deutschen Verlagswesens entdecken.
Der Autor, promovierter Zeithistoriker, Ex-Lehrbeauftragter am Berliner Otto-Suhr-Institut, jahrzehntelanger Studienrat und heute ehrenamtlich in der Gedenkstätten- und Zeitzeugenarbeit aktiv, beginnt sein Buch mit der Biografie Stalins. Es folgen als Kernstücke die Kapitel „Zur Eskalation der Gewalt im Leninismus“ und „Die Eskalation des Terrors im Stalinismus“. Ein weiterer Abschnitt widmet sich der „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und seinen Folgen“. Schließlich resümiert Buchner seine Erkenntnisse im namentlich an Hannah Arendt angelehnten, de facto aber Carl Joachim Friedrichs und Zbigniew Brzezinskis Thesen fortschreibenden Abschnitt „Zwölf Elemente totaler Herrschaft – aus der Sicht einer Analyse des Stalinismus“.
Als Schwerpunkt seiner Argumentation könnte man zweierlei herausstreichen: Zum einen geht es ihm um eine Entmystifizierung der Person und Rolle Lenins. Zum anderen ist ihm daran gelegen, das wahre Ausmaß des stalinistischen Terrors ins Bewusstsein zu rufen, um auf diese Weise den Opfern ein würdiges Gedenken zu bereiten, welches nicht die Singularität des Holocaust in Zweifel zieht, wie der Autor nicht müde wird zu wiederholen. So gelte es aus deutscher Sicht als erstes der NS-Opfer und an zweiter Stelle der Stalinismus-Opfer zu gedenken (482).
Die Bild Lenins wird mit dem ehemaligen sowjetischen Generaloberst und späteren – durchaus umstrittenen – Historiker Dimitrij Wolkogonow gezeichnet. Demzufolge sei Lenin nicht der geniale Revolutionär gewesen, sondern Putschist, der seine bzw. die Ziele der Bolschewiki mit verbrecherischer Härte durchsetzte. Buchner beschreibt Lenin als Schreibtischmörder (261), der eigenhändig Mordlisten unterschrieben hat und im September 1918 die Einrichtung von Konzentrationslagern anordnete, sowie den Leninismus als Prä-Stalinismus (257). Diese Revision des Lenin-Bildes, die eine „positive Würdigung … nicht mehr – selbst wenn man dem jungen Lenins Bewunderung nicht versagt“ (258) möglich macht, gehe vor allem auf eine Vielzahl von neuen Archivfunden seit 1990 zurück: „Wie negativ, in Wahrheit desaströs diese Bilanz des Leninismus durch den heutigen internationalen Forschungsstand ausfällt, wenn man sich dem neuen Beweismaterial aus den Geheimarchiven nicht verweigert, war auch für mich selbst (trotz einiger Insider-Kenntnis über das Alltagsleben in der UdSSR), nach jahrelanger wissenschaftlicher Recherche teilweise erstaunlich,“ schreibt Buchner.
Er stößt damit in ein ähnliches Horn wie die 2010 aus dem Nachlass herausgegebene Leninbiografie des bekannten DDR-Historikers und langjährigen Gulag-Häftlings Wolfgang Ruge.
Das wahre Ausmaß der stalinistischen Verbrechen ist jenseits abstrakter Zahlen immer noch nicht wirklich präsent, was auch daran liegt, dass die geschichtliche Forschung mit der Öffnung der Archive im Zuge der Implosion des sowjetischen Reiches im Fluss ist und viele Ergebnisse nur zeitverzögert ins Deutsche übertragen werden. So gelten, auch diesen Aspekt greift Buchner auf, die Jahre 1937/38 zwar als Jahre des Großen Terrors. Doch überwiegend werden damit gemeinhin lediglich die Schauprozesse gegen die alte bolschewistische Garde verknüpft. Der Große Terror war jedoch vielmehr ein Großer Terror, weil er sich z.B. in Gestalt des Befehls 00447, auch Kulakenoperation genannt, gegen einfache sowjetische Bürger richtete. Allein aufgrund dieses Befehls wurden 350.000 bis 445.000 Menschen erschossen. Zusammengenommen mit den sogenannten Nationalitätenoperationen (vor allem gegen Polen) wurden in diesen beiden Jahren bis zu 700.000 Menschen ermordet.[1] Alle Zahlenangaben, betont Buchner, sind dabei mit Vorsicht zu genießen, denn eindeutige Angaben lassen sich im Nachhinein nicht mehr machen.
Über die verheerende Kollektivierung der Landwirtschaft ab 1932 weiß Buchner mit Bezug auf Churchill zu berichten, dass dieses Jahr die schwerste Zeit Stalins Lebens gewesen sein soll – schwieriger selbst noch als das Jahr 1941. Dieser soll im Gespräch mit Churchill sogar eine ungefähre Zahl der Opfer infolge der gewaltsamen Kollektivierung genannt haben: Zehn Millionen (287) sollen demzufolge den Tod gefunden haben. Bis 1991 habe sich die sowjetische Landwirtschaft nicht von diesem Schrecken erholen können (281).
1941 – das Jahr des Überfalls der Wehrmacht Hitlers auf die UdSSR: Buchner beschönigt keineswegs den Charakter des deutschen Vernichtungskriegs und die unzähligen Opfer, die die Sowjetunion durch diesen zu beklagen hatte. Er argumentiert indes, dass die Politik Stalins das zunächst schnelle Vordringen der deutschen Truppen ermöglicht habe. Denn 1937/38 „säuberte“ Stalin auch innerhalb der Roten Armee. Sein Motiv dabei war, nach den Machtfaktoren Partei und Geheimpolizei nunmehr auch die Armee unter seine Kontrolle zu bringen. Stalin habe mit diesen Massenmorden de facto sogar die Existenz der Sowjetunion aufs Spiel gesetzt (382). Der Verfasser führt neben dem Motiv Machtsicherung- und -ausbau noch ein zweites an: Stalins „mörderischer Antisemitismus“, ja gar „eliminatorischer Antisemitismus“. (ebd.) Insbesondere die Charakterisierung des Stalinschen Antisemitismus als eliminatorisch muss aber widersprochen werden. Wenngleich Stalin insbesondere in seinen späten Jahren antisemitisch Einstellungen offenbarte, so ist diese Beschreibung, die durch Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ geprägt ist, irreführend und hat den Ruch des Relativierenden. Nicht nur an dieser Stelle stellt sich die Frage, ob der wiederholende Verweis auf die Singularität der Naziverbrechen, nur ein Lippenbekenntnis ist.
Höchst zweifelhaft ist des Weiteren, ob man die bekannte Warnung vor Hitlers Kriegsabsichten (Wer Hitler wählt, wählt den Krieg) auf Stalin übertragen kann (377). Zwar ist es richtig, auf die gemeinsame Zerschlagung und Besetzung Polens etc. durch die Sowjetunion und Deutschland hinzuweisen. Doch berücksichtigt der Autor zu wenig, dass die politische Führung der Sowjetunion sich seit ihrer Gründung quasi als belagerter Festung wahrnahm – bedroht durch imperialistische Interventionen, weißen konterrevolutionären Terror und später durch das faschistische Deutschland. Dieser Hinweis soll nicht die Politik Stalins rechtfertigen, sondern nur den Hintergrund andeuten, vor dem sich das Handeln Stalins vollzog.
Man könnte an Buchners Argumentation im Detail noch vielerlei kritisieren. Das Resümee an dieser Stelle ist, dass das etwas sperrige, unstrukturierte und eigenwillig gelayoutete Werk durch die Präsentation vieler neuer, gerade auch russischsprachiger Publikationen, einen guten Überblick über die Forschung der letzten zwei Jahrzehnte gibt, zur Korrektur herkömmlicher Sichtweisen beiträgt, aber auch zu Widerspruch herausfordert.

[1]   Vgl. dazu auch Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge, Massenmord und Lagerhaft: Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009, sowie dies. (Hrsg.), Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937-1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls No 00447, Berlin 2010.

(aus: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 89, März 2012)

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