Filmkritik: Lornas Schweigen

Gleich die erste Szene, in der eine Hand ein Bündel Geldschein zählt, bringt auf den Punkt, worum es in dem neuesten Film der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne geht: der Preis eines Menschen bzw. des zu ihm gehörigen Passes. Insofern könnten Brechts Zeilen aus dem Song von der Ware aus dem Stück „Die Maßnahme“ das Leitmotiv des Filmes sein: „Was ist eigentlich ein Mensch? / Weiß ich, was ein Mensch ist? / Weiß ich, wer das weiß? / Ich weiß nicht, was ein Mensch ist / Ich kenne nur seinen Preis.“ Und Geldbündel, in denen der Preis eines Menschen oder seines Passes ausgedrückt wird, der über den Zugang zu etwas mehr „Wohlstand“ entscheidet, werden in dem Film noch oft gezählt. Denn es geht um kaufen, um teurer wieder zu verkaufen. Diejenige, die zunächst von dem in die Menschenhändlerriege aufsteigenden Taxifahrer Fabio gekauft wird, ist die Lorna – eine aus Albanien nach Belgien geflohene junge Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht, als Belgierin zu werden und mit ihrem sich als moderner illegaler Wanderarbeiter verdingenden Freund eine Snackbar aufzumachen. Um an den belgischen Pass zu kommen, vermittelt Fabio eine Scheinehe mit dem Junkie Claudy. Doch von Anfang an ist geplant, diesen – „Er ist doch nur ein Junkie“ – an einer Überdosis sterben zu lassen, um die Witwe Lorna an einen Russen weiterzuvermitteln, der seinerseits in Besitz der belgischen Staatsbürgerschaft kommen möchte. Zunächst hält sich Lorna an diesen Plan, schließlich profitiert auch sie davon. Claudy, der sie immer wieder um Hilfe bei seinen vergeblichen Entzugsversuchen anfleht, hält sie emotional wie räumlich auf Distanz. Claudy ist so tatsächlich nur ein Mittel zum Zweck. Doch als einer seiner Versuche, von der Droge loszukommen, gelingt, zeigt sich, dass er nicht in Tauschäquivalenten denkt bzw. nicht auf Geld aus ist. Lorna fängt an, ihn als Menschen zu sehen. Sie fängt an, ihn zu lieben. Die Liebe sprengt das Prinzip des Äquivalententausches. Sie bringt den Plan von Fabio, von Sokal (und auch von Lorna) in Gefahr. Nunmehr wehrt sie sich gegen die Absicht, Claudy sterben zu lassen. Sie fügt sich selbst Verletzungen zu, um den Anschein zu erwecken, sie werde von ihrem „gewalttätigen“ Mann geschlagen. Ein triftiger Scheidungsgrund. Doch zu einer Scheidung kommt es nicht. Denn Fabio vollstreckt seinen Plan, Claudy durch eine Überdosis umzubringen. Doch damit nicht genug: Nun meint auch noch Lorna, von Claudy schwanger zu sein. Mit einer schwangeren Frau ist aber kein Geld mit dem Russen zu machen, der evtl. Unterhaltszahlungen fürchtet. Lorna soll also abtreiben. Allerdings stellt sich heraus, dass sie gar nicht schwanger ist. Der Deal ist jedoch schon geplatzt, die gerade angepachtete Snackbar muss wieder zurückgegeben werden. Lorna realisiert, dass es auch Sokal nur um Geld ging: „Es ging Dir nur darum, wie viel Du eingezahlt hast, und nicht um mich“. Die letzten Szenen zeigen Lorna, wie sie wie im Wahn mit dem nicht vorhandenen Kind redend – „Ich habe deinen Vater sterben lassen. Ich werde dich nie sterben lasen“ – vor Fabios Gehilfen flüchtend, sich in einer Waldhütte verschanzt. Die ehemaligen Dokumentarfilmer Jean-Pierre und Luc Dardenne führen mit Lornas Schweigen fort, was sie mit mehrfach ausgezeichneten Filmen wie u.a. Rosetta und Das Kind begonnen haben: ein konzentrierter Blick auf die Ränder der europäischen Gesellschaften mit ihren Flüchtlingen, Kleinkriminellen, Arbeitern. Dabei sparen sie auch die Darstellung der alltäglichen (Lohn)arbeitsmühe ihrer Protagonisten nicht aus. Dabei berühren sie sich dem Kino des finnischen Sonderlings Aki Kaurismäki. All das wird gezeigt mit den Mitteln des „armen Kinos“. Also Hand- und Digitalkameras, lange Einstellungen, keine Musik. Die Dardennes richten nicht über ihre Figuren, sie zeigen sie noch nicht einmal mit Antipathie, obwohl sie für sich genommen, unmenschliche Dinge tun. So zum Beispiel der Verkauf des eigenen Babys in „Das Kind“. Doch die Dardennes brechen auch nicht den Stab über die Verhältnisse, die die Menschen dazu zwingen zu tun, was sie tun.

(aus: Sozialismus 11/2008)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert