Der Hunger aus dem Tank

Politische Sonntagsreden gibt es viele. Das belegte nicht zuletzt der jüngste Klimagipfel in Katar, der, obschon er über zwei Wochen tagte, nicht zu der dringend erforderlichen Konkretisierung des Kyoto-Protokolls führte. Der Welternährungstag am 16. Oktober war hingegen nur für wenige Vertreter des politischen Establishments ein Anlass, die Welt mit einer weiteren Sonntagsrede zu „beglücken“.

Stattdessen forderte der Papst, im Kampf gegen den Hunger intensiver zusammenzuarbeiten und mehr für landwirtschaftliche Entwicklung und ein Wachstum der ländlichen Gemeinden zu tun. Der Generaldirektor der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), Jose Graziano da Silva, kritisierte, dass die Hilfen für die Landwirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten immer weiter reduziert worden seien. Und der UN-Beauftragte für das Recht auf Nahrung, Olivier De Schutter, beklagte, dass die Lebensmittelpreise zu sehr schwankten und das Preisniveau gefährlich hoch liege, was ein sofortiges Handeln notwendig mache.

Doch Politiker mit nennenswertem Einfluss hielten sich am 16. Oktober vornehm zurück. Ihnen daraus einen Vorwurf zu machen, wäre freilich ungerecht. Denn ihre Aufgabe besteht, so Jean Ziegler, De Schutters Amtsvorgänger, ja darin, die jeweilige nationale Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Dafür würden sie letztlich gewählt und nicht, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen: „Schließlich zählten“, so Ziegler in seinem neuen Buch „Wir lassen sie verhungern“, „die vom Hunger dauerhaft geschädigten Kinder aus Chittagong, Ulan-Bator und Tegucigalpa nicht zu den Wählern. Sie sterben auch nicht auf der Champs-Elysées in Paris, dem Kurfürstendamm in Berlin oder der Plaza Major in Madrid.“[1] Dieser Logik zufolge ist es denn auch angemessen, ja sogar, um mit Angela Merkel zu sprechen, „alternativlos“, den europäischen Banken Abermilliarden Euro in Form sogenannter Rettungspakete zukommen zu lassen – auch zulasten des UN-Welternährungsprogramms.

»Jeder Achte auf der Welt hungert.«

Immerhin hatte die FAO nur wenige Tage vor dem Welternährungstag ihren neuen Bericht veröffentlicht. Dieser wartet, basierend auf verfeinerten Erhebungsmethoden, mit einer erfreulichen Nachricht auf: Statt der bisher kursierenden Schätzung von rund einer Milliarde hungernden Menschen sind derzeit „nur“ 868 Millionen Erdenbewohner unterernährt.

Es hungert also jeder Achte auf der Welt, was einem Anteil an der Bevölkerung von 12,5 Prozent entspricht (zwischen 1990 und 1992 betrug der Anteil noch 18,6 Prozent). Die neuen Schätzungen zeigen, dass infolge der globalen Hunger- und Finanzkrise weniger Menschen zusätzlich an Nahrungsmangel litten, als bisher angenommen worden war.[2]Das überrascht zunächst. Doch der Bericht relativiert diesen Befund in zweierlei Hinsicht: Erstens zeigen die Zahlen, dass der Rückgang der Hungernden seit 2007, also seit Beginn der globalen Krisenphänomene, stagniert. Zweitens hat der Report nur Schätzungen über die chronische Unterernährung zur Grundlage – und diese berücksichtigen keine kurzfristigen Effekte wie etwa die in den letzten Jahren verstärkt auftretenden Preisschwankungen. Insofern, so die Einschränkung des Berichts, seien die Ergebnisse nicht dazu geeignet, Schlüsse etwa über die Effekte von hohen Lebensmittelpreisen oder andere kurzfristigen Auswirkungen zu ziehen. Von Interesse ist zudem ein Blick auf die je spezifische regionale Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte. In Asien ist der Rückgang des Hungers – vor allem dank des chinesischen Aufschwungs – am deutlichsten. Ebenso ist ein Rückgang in der Karibik und Lateinamerika zu konstatieren. Weiter zugenommen hat der Hunger indes in Afrika.

Die NGO Oxfam führt in ihrer Stellungnahme zum FAO-Bericht die Stagnation im Kampf gegen den Hunger auf drei Faktoren zurück – den Klimawandel, das Land Grabbing und die Förderung von Biokraftstoffen. Hinzuzufügen wäre noch die Finanzialisierung der Rohstoffmärkte, die sich in der letzten Dekade vollzogen hat, mit der Konsequenz dramatisch gestiegener Getreidepreise.

Von herausragender Bedeutung ist jedoch der Faktor „Bioethanol“; verschiedenen Studien zufolge ist er für 40 bis 75 Prozent des steigenden Preisniveaus verantwortlich. Immerhin mehren sich seit wenigen Jahren die Stimmen, die das ursprüngliche Ziel der Biosprit-Produktion – den Ausstoß von CO2 zu verringern – als verfehlt ansehen. Zuletzt kam die Wissenschaftsakademie Leopoldina zu dem Schluss, dass für Deutschland wie für die EU „die Verwendung von Biomasse als Energiequelle in größerem Maßstab keine wirkliche Option“ ist,[3]weil sie zur Verknappung von Nahrungsmitteln führt und die Preise für Land und Wasser in die Höhe treibt. Zudem hat diese Form der Bioenergie keinen besseren Einfluss auf das Ökosystem und die Treibhausgas-Bilanz als die fossile Energiegewinnung. Die Autoren fordern daher einen umgehenden Stopp des weiteren Ausbaus der Bioenergie.

Das Institute for European Environment Policy drückte die verheerenden Folgen des Biosprits noch etwas plastischer aus: Demnach „führen die Maßnahmen zur Förderung von Treibstoffen aus Biomasse, mit denen die EU und ihre Mitgliedsländer eigentlich das Klima schonen wollen, zu Rodungen, die bis 2020 so viel zusätzliche Klimabelastung verursachen wie 12 bis 26 Mio. Autos.“[4]Und bereits 2008 wurde im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“[5] eine Studie für die USA veröffentlicht, wonach die Umwidmung von Flächen zum Anbau von Energiepflanzen zu einer erheblichen Zunahme des CO2-Ausstoßes führen wird.

Die Ökobilanz von Agrartreibstoffen ist also alles andere als positiv – auch mit Blick auf den enormen Energie- und Wasserverbrauch, den die Biosprit-Produktion verursacht. Schätzungen zufolge sind bis zu 4000 Liter Wasser notwendig, um einen Liter Bioethanol herzustellen.

Angesichts eines Drittels der Weltbevölkerung, das nicht über ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser verfügt, ist dies, gelinde gesagt, höchst problematisch. Ebenso wenig gesichert ist, ob der sogenannte Erntefaktor – sprich: die Effizienz der Energiegewinnung, wenn man den gesamten Lebenszyklus von der Produktion bis zur Verarbeitung berücksichtigt („Energy returned on energy invested“) –, bei Bioethanol und Biodiesel überhaupt positiv ist. Von einer ökologischen Energie kann bei Biosprit somit mitnichten die Rede sein.

»15 Prozent der globalen Maisernte werden für die Energiegewinnung verwendet.«

Noch schwerer wiegt indes das „Tank statt Teller“-Problem. Mit dem Anbau von Soja und Raps, Mais und Weizen für die Gewinnung von Bioenergie tritt der motorisierte, vorgeblich ökologisch bewusste Bewohner des industrialisierten Teils dieser Welt in erbitterte Konkurrenz mit der hungernden Kleinbäuerin oder dem im informellen Sektor der Mega-Slums Beschäftigten des globalen Südens. In einem globalisierten deregulierten Kapitalismus ist klar, wer dabei auf der Strecke bleibt: jener, der nicht genügend zahlungskräftige Nachfrage besitzt. Eine Nachfrage übrigens, die durch die üppigen Biosprit-Subventionen der USA und der EU noch gefördert wird. Auf diese Weise betätigen sich EU und USA als Preistreiber auf den Agrarrohstoffmärkten und verursachen immer mehr Hunger.

Die Auswirkungen der US-amerikanischen Bioethanol-Förderung speziell auf die Entwicklungsländer untersucht die Studie von Timothy Wise vom Global Development and Environment Institute an der Tufts-Universität.[6] Demnach wurden 2012, also in einem Jahr besonderer Dürre in den USA, 40 Prozent der amerikanischen Maisernte zu Bioethanol verarbeitet. Die USA sind mit Abstand der weltgrößte Produzent und Exporteur von Mais. Insofern ruft die Tatsache, dass rund 15 Prozent der globalen Maisernte nunmehr für die Energiegewinnung verwendet werden (anstatt als Futter- oder Lebensmittel), einen erheblichen Nachfrageschock auf den globalen Märkten hervor. Wise schätzt, dass sich durch die US-Bioethanol-Produktion die Nahrungsmittel-Importbilanz der Entwicklungsländer zwischen 2006 und 2011 um 6,5 Mrd. US-Dollar verschlechtert hat.

Zur Erinnerung: Erst durch die berüchtigten Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurden viele Entwicklungsländer von Agrarexporteuren zu Agrarimporteuren. So hatten sie Anfang der 1970er Jahre noch einen Export-Überschuss von 17 Mrd. Dollar. Selbst in den 80er Jahren war die Agrarhandelsbilanz weiterhin positiv, wenngleich stark schwankend. Erst in den 90er Jahren, mit dem Siegeszug des Neoliberalismus, wurden die Entwicklungsländer dann zu Nettoimporteuren von Lebensmitteln. Einer Weltbank-Studie aus dem Jahre 1999 zufolge[7] verfügten schon damals zwei Drittel der untersuchten 148 Entwicklungsländer über eine negative Handelsbilanz. Daraus resultiert ein erheblich verringerter finanzieller Spielraum der betroffenen Staaten. Oft werden dann Einsparungen in sozialen Bereichen vorgenommen, die immer wieder, wie etwa 2007 und 2008, zu regelrechten Hungeraufständen führen können.

»Biokraftstoffe sind eine grün lackierte Scheinlösung.«

Die verheerenden Folgen der Biokraftstoffindustrie haben inzwischen einen moralischen Druck hervorgerufen, der Handlungsbedarf auf der politischen Ebene erzeugt. Das Emporschnellen der Agrarpreise infolge der diesjährigen Dürre in den USA ließ jene Stimmen lauter werden, die dafür plädieren, die Produktion von Bioethanol auszusetzen.

In der EU gibt es dazu bereits konkrete Bestrebungen: Sie rückte Mitte Oktober von ihrem Ziel ab, bis 2020 wenigstens zehn Prozent des Treibstoffes für Transportzwecke durch erneuerbare Energiequellen zu decken. Jetzt liegt das Ziel bei fünf Prozent Treibstoff aus erster Generation (Nahrungsmittel); der Rest soll mit Biomasse aus zweiter Generation gedeckt werden, also aus Abfall, Stroh, Tierfetten oder Algen. So begrüßenswert dieser Schritt sein mag, so unzureichend ist er. Das Potential bei Biomasse der zweiten Generation dürfte längst nicht ausreichend sein, die Herstellung ist noch aufwendiger, der Ertrag letztlich zu gering.

Was aber wäre notwendig? Zunächst einmal die Demontage der vermeintlichen Wunderlösung namens Biokraftstoffe: Faktisch sind diese lediglich eine grün lackierte Scheinlösung, die von einer neuen Kapitalallianz aus dem Agrar- und Energie-, dem Automobil- und Biotechnologiesektor mit dem Ziel vorangetrieben wird, die Strukturen und Muster eines vom Erdöl geprägten Kapitalismus und seiner Konsumweise zu verlängern – und zwar sowohl auf Kosten der Ernährungssicherheit vorwiegend im globalen Süden als auch der globalen Nachhaltigkeit.

Das Hungerproblem indes kann nur dadurch wirksam angegangen werden, dass über den gegenwärtigen Warencharakter von Lebensmitteln gesprochen wird[8] – wie über Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Beseitigung. Faktisch leben wir in einer geschichtlichen Situation, in der genug produziert wird, um jedem Menschen die benötigten 2200 bis 2440 Kalorien pro Tag zukommen zu lassen. Ein komplettes Verbot von Biokraftstoffen wäre dafür ein erster Schritt, die Re-Regulierung der Rohstoffmärkte ein weiterer. Der wichtigste Schritt bestünde jedoch in der grundsätzlichen Infragestellung des Warencharakters von Nahrung wie auch der (imperialen), hoch verschwenderischen Lebensweise in den industrialisierten Staaten des globalen Nordens.

Dem derzeit eine Renaissance erlebenden (neo)malthusianischen Einwand, wonach bei einer steigenden Weltbevölkerung und zunehmend widrigen Umweltbedingungen eine ausreichende Ernährung aller Menschen zukünftig nicht mehr sichergestellt werden kann, wäre dagegen mit den Ergebnissen des jüngsten Weltagrarberichts[9] Folgendes zu entgegnen: Eine radikale, nachhaltige und ökologische Reform der Landwirtschaft wäre in der Lage, Ertragssteigerungen zu erzielen, die für die Versorgung der prognostizierten neun Millionen Menschen im Jahr 2050 allemal ausreichend wären. Dafür bedarf es allerdings nicht mehr und nicht weniger als der Abkehr vom industriellen Agrobusiness.

[1] Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt, München 2012, S. 197 f.
[2] Food and Agriculture Organization of the United Nations (Hg.), The State of Food Insecurity in the World, Rom 2012, S. 10.
[3] Mit Ausnahme der Nutzung von biogenen Abfällen, vgl. Bioenergie: Möglichkeiten und Grenzen. Kurzfassung und Empfehlungen, www.leopoldina.org, S. 5; vgl. auch James Smith, Biotreibstoff: Eine Idee wird zum Bumerang, Berlin 2012.
[4] Marcel Hänggi, Ausgepowert. das Ende des Ölzeitalters als Chance, Zürich 2011, S. 211 f.
[5] Timothy Searchinger u.a., Use of U.S. Croplands for Biofuels Increases Greenhouse Gases Through Emissions from Land-Use Change, in: „Science“, 5867/2008, S. 1238-1240.
[6] Timothy A. Wise, The Cost to Developing Countries of U.S. Corn Ethanol Expansion, GDAE Working Paper 12-02, Oktober 2012.
[7] Vgl. Misereor (Hg.), Wer ernährt die Welt? Die europäische Agrarpolitik und Hunger in Entwicklungsländern, Aachen 2011.
[8] Vgl. Fred Magdoff, Food as commodity, in: „Monthly Review“, 1/2012.
[9] Vgl. www.weltagrarbericht.de; an dem Bericht waren über 400 Wissenschaftler beteiligt.

(aus: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013)

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