Ein Buch als Verdichtung von Diskursen

Immerhin: Der Feuilletonchef der FAZ Patrick Bahners schreibt – allerdings nicht in seinem Hausblatt, sondern in Blätter für deutsche und internationale Politik – Folgendes: »Nicht wie aus einem Munde, aber immer lauter ertönt es heute: Der Islam ist das Problem. Was haben diejenigen gewollt, die diese Parole lancieren? Ralph Giordano und Henryk M. Broder sind redegewaltige Männer. Aber sie haben wohl kaum geglaubt, dass sämtliche Muslime deutscher Nationalität nach Lektüre der Autobiographie von [der niederländischen Islamkritikerin] Ayaan Hirsi Ali vom Glauben abfallen würden. Aber wenn nicht – was dann?«[1] Diese Frage, noch vor der jüngsten Sarrazin-Debatte formuliert, beschreibt exakt das zentrale Problem. Und dieses stellt sich umso dringlicher, wenn man bedenkt, dass Bahners seine Frage mit Bezug auf den Berliner Antisemitismusstreit des Deutschen Kaiserreiches einleitet. In der Sarrazin-Debatte verdichten sich indes mehrere Diskurse und Phänomene, weshalb sie auch als »diskursiver Dammbruch«[2] bezeichnet wird. Auf ein paar Aspekte wird im Folgenden thesenartig eingegangen.

Die Art und Weise der Rezeption der Thesen Sarrazins bedeutet die Rückkehr des biologistischen Rassismus als diskussionswürdiges Thema in der politischen Mitte Deutschlands.

Mehrere Studien[3] belegen seit Längerem die weite Verbreitung von ausländerfeindlichen, rassistischen, antisemitischen und anderen Ideologien der Ungleichwertigkeit in der deutschen Bevölkerung und der politischen Mitte. Rassismus war nach dem deutschen Faschismus jedoch, die extreme Rechte ausgenommen, nicht mehr biologistisch oder völkisch begründet, sondern kulturalistisch. Das heißt, dass eine real vorhandene oder konstruierte kulturelle Differenz, die im Widerspruch zur europäischen oder deutschen Kultur steht, als essentialistisch gedacht und abgewertet wird. Vor zwei Jahren schlussfolgerte Eberhard Seidel, dass ein Kulturalismus, der in der Vergangenheit dem äußersten rechten Rand des politischen Spektrums vorbehalten war, sich heute auch in der bürgerlichen Mitte großer Popularität erfreue, da diese auf den Zug der »Religionisierung der Integrationsdebatte« aufgesprungen sei.[4] Sarrazins Thesen von der minderen vererbbaren Intelligenz der Muslime und Araber geht über die Dimension des kulturalistischen Rassismus hinaus und begründet Rassismus erneut auch biologisch-deterministisch und eugenisch. Das Raffinierte ist, dass die Reetablierung dieses Rassismus sich mit dem Etikett der Meinungsfreiheit schmückt, wie es exemplarisch in der SüddeutschenZeitung (6.9.2010) Klaus von Dohnanyi gezeigt hat: »Also bitte keine Feigheit mehr vor Worten wie Rasse, Juden, Muslime. Es gibt sie. Man darf sie benutzen.« Wenig verwunderlich ist es daher, dass das extrem rechte Spektrum frohlockt – sind doch endlich ihre Anschauungen im Mainstream angekommen. Gleichzeitig befürchten sie auch, dass ihr der parteipolitische Erfolg verwehrt bleibt, da das rassistische Potenzial zwar verstärkt von der Mitte integriert wird, diese aber weiterhin mit dem Zeigefinger auf die richtigen Nazis zeigt.

Die politische Klasse hat Probleme, sich von Sarrazin zu distanzieren. Sie hat ihn zwar aus der Bundesbank hinausgedrängt und vermutlich wird er auch aus der SPD ausgeschlossen. Doch das wird nicht damit begründet, dass er rassistische Positionen vertritt, sondern dass er ein Tabu gebrochen und eine Grenze überschritten habe. Gleichzeitig wird ihm noch zugute gehalten, dass er eine wichtige Diskussion angestoßen habe. Das liegt daran, dass die politische Mitte Deutschlands selbst in einem »demokratischen Rassismus« eingebunden ist und dass biologischer Determinismus in der Bevölkerung weite Verbreitung findet.

Die demokratischen Rassisten benötigen die extremistischen Rassisten, sprich Neonazis, zu Abgrenzungszwecken, um ihre Position und Politik als gemäßigt, der Mitte zugehörig und insofern quasi aus sich selbst heraus zu legitimieren. Der Extremismus der Mitte wird insofern auf die extremen Ränder projiziert, und es wird verkannt, dass es eine immer größer werdende Schnittmenge von extrem rechten und Positionen der so genannten Mitte gibt.[5] In Bezug auf die Sarrazin-Debatte hat Thomas Steinfeld darauf aufmerksam gemacht: »Es ist unangenehm, ja sogar peinlich, sich Rechenschaft abzulegen darüber, dass es einen demokratischen Rassismus gibt. Aber es gibt ihn, in allen Parteien, in weiten Teilen der Bevölkerung, überall, wo überhaupt die Vorstellung einer natürlichen Staatsangehörigkeit auftaucht.« (SZ, 31.8.2010) Denn gerade die deutsche Staatsangehörigkeit hat historisch eine lange völkische Tradition. Erst vor wenigen Jahren wurde partiell vom Blutsrecht Abstand genommen und die Staatsbürgerschaft auch an das Territorialprinzip gebunden. Auch im Grundgesetz »offenbart sich der völkische Kern« des bundesdeutschen Republikverständnisses, worauf der Freiburger Politikwissenschaftler Dietrich Oberndörfer hinweist. Zwar bezögen sich die Grundrechte in den Artikeln 1 bis 3 des Grundgesetzes auf jede und jeden, dann aber sei nur von Rechten für Deutsche die Rede.[6] Deutsche waren z.B. jene so genannten Russlanddeutschen, die von irgendwo her deutsches Blut in ihren Adern hatten, Deutscher war indessen nicht der so genannte Gastarbeiter, der seit Jahrzehnten in Deutschland arbeitete und Steuern zahlte. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk durch das »richtige Blut« schließt somit Oberndörfer zufolge eine rassistische Komponente ein.

Was für den Rassismus gilt, gilt auch für Sarrazins eugenische Vorstellungen: Ulrike Baureithel schreibt im Freitag (9.9.2010): »Was allerdings die Sarrazin vorgeworfene positive Eugenik betrifft, die ihn exkommuniziere, sollte die deutsche Mainstream-Gesellschaft darüber nachdenken, ob sie nicht in ähnlichem Fahrwasser treibt, wenn sie Hartz IV-Empfängern das Elterngeld vorenthält oder wenn künftig geschädigte Embryonen im Reagenzglas ausgesondert werden sollten. Ob ›deutsches Wesen‹ oder ›gesundes Wesen‹, es handelt sich in beiden Fällen um ein Qualitätsurteil.« Und Felix Klopotek (jungle World, 9.9.2010) weist darauf hin, dass ohne großes Aufsehen die Bundesregierung ein »Sparpaket« beschlossen habe, das die Ressentiments gegen die prekäre Unterschicht in Form von Gesetzen festschreibe. »So werden die bevölkerungspolitischen Ideale Sarrazins vom schwarz-gelben Kabinett längst verwirklicht.«

Der Sarrazin-Diskurs hat eine entlastende Funktion. Die Politik wird durch den biologischen Determinismus bzw. Essentialismus von der Aufgabe entbunden, etwa in Sachen Integration differenzierte und tiefgehende Maßnahmen zu ergreifen. Stattdessen wird mit Schuldzuweisungen gearbeitet. Die Mehrheitsbevölkerung wird davon entlastet, etwas falsch gemacht zu haben. Es ist ja der Fremde, der Muslim, der die Schuld trägt und sich nicht integrieren will.

Die Biologin Veronika Lipphardt (Freitag, 16.9.2010), die die Rezeption menschlicher Biodiversität im 20. Jahrhundert am Max-Planck-Institut erforscht, zeigt, dass die Ursachen für die weite Verbreitung biologischer Determinismen in dem medialen Hype um die Humangenetik der 1990er Jahre zu suchen seien. Es wurden Gene gefunden, die angeblich zum Beispiel für Religiosität, Untreue und Intelligenz etc. zuständig seien. Das Publikum liebe solche Botschaften, weil es das genetische Schicksal eines jeden festlege. Dadurch ist das Individuum entlastet, an sich selbst zu arbeiten, weil ja eh alles vorherbestimmt ist. Auf die Integrationsdebatte übertragen hat die Sarrazin-Welle bereits bewirkt, dass die SPD verstärkt auf Schuldzuweisungen setzt und »Integrationsunwilligen« mit Repressalien droht.

Die Aussage, wonach der Islam per se nicht mit Demokratie und Aufklärung vereinbar ist, ist falsch. Sie verrät mehr über den Westen als über den Islam/Orient und dient der Feindbildkonstruktion bzw. der Festigung des Selbstbildes der westlich kapitalistischen Gesellschaften.

Zunächst: Es ist sicher richtig, dass die islamisch geprägten Länder keine der mit den westlichen Aufklärungen, Säkularisierungen und Revolutionen vergleichbaren Prozesse hervorgebracht haben. Doch die Frage ist: Liegt das ausschließlich am Islam? Und ist andererseits das Christentum die Ursache der Prozesse, die im Westen zu parlamentarischen Demokratien geführt haben? Sicher nicht: Mohssen Massarrat weist darauf hin, dass »nicht der Islam die Demokratisierung verhinderte und auch nicht das Christentum die Demokratisierung beförderte, sondern dass letztlich das Fehlen eines selbstständigen Bürgertums in den orientalischen Gesellschaften und die Entstehung desselben in okzidentalen Gesellschaften für die ökonomische und politische Stagnation dort und die Modernisierung hier verantwortlich war.«[7]

Darüber hinaus: Die europäische Renaissance und Aufklärung wäre ohne die Überlieferung durch die islamische Kultur und ohne islamische Schriftgelehrte undenkbar gewesen. Auch ärztliches Wissen und zahlreiche kulturellen Praktiken der arabischen Länder sind Bestandteil der so genannten westlich-europäischen Kultur geworden[8] – bezeichnend ist, dass dies vergessen wurde bzw. der Feindbildkonstruktion zum Opfer fiel.

Ferner wird in diesem Diskurs gar nicht mehr die Frage gestellt: Ist es überhaupt erstrebenswert, was »der Westen« vorlebt: Denn »der Westen« steht ja genauso für Kreuzzüge, Kolonialismus, Imperialismus, Weltkriege und Holocaust. Und auch wenn von diesen Makroverbrechen abgesehen wird. All das, was sonst noch am Islam kritisiert wird, fand man noch vor kurzem und findet man noch heute in den westlichen Ländern: z.B. die Unterdrückung der Frau. Formell gleichberechtigt verdienen sie immer noch viel weniger als Männer, sind kaum in Spitzenpositionen zu finden und zuhause häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt.

Was in der »westlichen Kultur« fehlt, ist eine kritische, geschichtliche Reflexion des »Wir« und wie es historisch geworden ist – mit all seinen Schattenseiten. Es fehlt überdies eine Infragestellung der doppelten Standards des Westens, der gerne Ehrenmorde beklagt, aber gleichzeitig durch strukturelle Gewalt und Kriege im Namen der Menschenrechte »den Hass auf den Westen« (Jean Ziegler) heraufbeschwört. Robert Misik hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Hass nicht nur auf Gewalt und Ausbeutung, sondern auch auf der Anziehungskraft seiner Kommerzkultur beruht. Er zitiert den französischen Islamwissenschaftler Gilles Kepel, der im Islamismus eine moderne Reaktion auf die Moderne sieht, und Olivier Roy, der den Aufstieg des Fundamentalismus gar als Symptom für »Verwestlichung« – eine »Verwestlichung«, die etwas anderes meint als selbst westlich zu werden. Misik folgert, dass ethnischer und religiöser Fundamentalismus eine Gegenreaktion auf die globale Konsumkultur, ein partikularer Abwehrversuch sei. »Welchen Grad an Rationalität oder Irrationalität wir ihm zubilligen, ist völlig unerheblich, und wenn er eine Reaktion auf die global hegemoniale Kultur ist, folgt daraus logischerweise, dass er mindestens ebenso sehr ein Produkt der westlichen Konsumkultur wie der islamischen Gesellschaften selbst ist. Mag er ein Monster sein, dann ist er das Monster, das wir selbst gezüchtet haben.«[9]

Den Fokus auf die kritische Reflexion des Konstruktionscharakters von Kultur, der weg von »den Fremden« und hin zur eigenen Gesellschaft führt, ist Thema des Buches »Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes« von Iman Attia.[10] Ihr geht es nicht darum, »das Fremde« zu verstehen, sondern darum zu zeigen, was das Reden über den »Fremden« und über das »Eigene« aussagt. Eine ihrer Thesen ist, dass die Fokussierung auf den Islam die Verleugnung der Relationalität und Interdependenz zwischen Westen und Islam und damit der eigenen Anteile an der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der »Anderen« ausblendet. Die Konstruktion des Islam als Bedrohung definiert die Aggression des Westens in Verteidigung um.

Es trifft zu, dass manche Beschreibungen und Korrelationen Sarrazins zutreffend sind, das muss jede Ideologie/Demagogie leisten, will sie Wirkung entfalten. Aber dies sagt noch nichts über die Ursachen aus. Diese liegen in der nachlassenden sozialen Integrationsfähigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus und in der jahrzehntelangen Weigerung der BRD, anzuerkennen, ein Einwanderungsland zu sein.

Dass Sarrazin ein Demagoge ist, belegt ein Zitat von ihm selbst: Einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung erzählte er im März 2010 Folgendes: Wenn man keine Zahl habe, muss »man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch«. Allerdings breitet er in seinem Werk auf vielen Seiten viele Zahlen aus, wobei er vor schlichten Fälschungen nicht zurückschreckt.[11] Überdies nimmt er andere Studien, die eine wesentlich bessere Integration der migrantischen Bevölkerung konstatieren, nicht zur Kenntnis.[12] Ein paar Beispiele: Der jüngste Bericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge weist für die Migration von und nach Deutschland einen negativen Saldo aus, nicht nur für Türken. Einer Studie der Uni Rostock zufolge nähert sich die Geburtenraten der »türkischen« Frauen denen der »deutschen an,[13] in der zweiten Generation bereits ist die Herkunft so gut wie bedeutungslos für die Geburtenzahlen. Untersuchungen zeigen, dass die Probleme von Menschen mit ausländischen Wurzeln am Arbeitsmarkt vor allem auf die unzureichende Integrationspolitik in Deutschland zurückzuführen sind. Das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung fand heraus, dass der Bildungsanspruch in türkischen Familien höher sei als in deutschen. Studien zeigen ferner, dass bei der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Immigranten unterm Strich einen positiven Beitrag leisten. Die Befürchtung, so der Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker, dass der Lohnwettbewerb von Migranten die Arbeitsplätze von deutschen Arbeitnehmern gefährde, wird durch die empirischen Befunde nicht bestätigt. »Im Gegenteil, deutsche Arbeitnehmer gehören in der Regel zu den Gewinnern der Zuwanderung. Sie profitieren durch steigende Löhne und, allerdings nur in geringem Umfang, durch fallende Arbeitslosigkeitsrisiken. Die Verlierer sind dagegen in der ausländischen Bevölkerung zu suchen, weil sie stärker als die Inländer mit den Zuwanderern in den gleichen Arbeitsmarktsegmenten konkurrieren.«[14]

Das zeigt: Es geht nicht um die Wahrheit, es geht um das Ressentiment, welches Sarrazin und seine Verteidiger mit dem Mantel Wissenschaft zuzudecken suchen. Achim Bühl schreibt in Bezug auf andere so genannte Islamkritiker, dass es die Macht des Rassismus sei, die unbewusst zur höchstselektiven Form der Wahrnehmung führe und rassistische Erfahrung produziere, indem sie soziologisch Multiples eindimensional kulturalisiert und »Störvariablen« wie soziale Herkunft, Bildung, Milieu, Klasse etc. ausblendet.[15] Von der Integrationsresistenz des Islam an sich könne also keine Rede sein, das arbeitet auch Ulrich K. Preuß heraus.[16]

Die Sarrazin-Debatte bedeutet eine Verknüpfung von Sozialrassismus[17] und ethnischen Zuschreibungen.

Albert Scharenberg arbeitet in einer Untersuchung der Unterschichten- und Sozialstaats-Diskussion in den Vereinigten Staaten heraus, dass diese auch rassistisch unterlegt ist, indes eine »simple Übertragung« auf die deutsche Diskussion nicht angeraten sei, wo »Langzeitarbeitslosigkeit bzw. dauerhafte Exklusion (noch) nicht so stark ethnisch bzw. ›rassisch‹ kodiert ist«.[18] Dieses »(noch) nicht so stark« steht nun vor dem Hintergrund der Diskussionen um Sarrazin zur Debatte. Absehbar ist, dass eine stärkere ethnische Zuschreibung von in Armut lebenden Menschen mit einer Stigmatisierung derselben einhergehen wird, gegen die sich wiederum die braven Steuerzahler und Leistungsbereiten mobilisieren lassen. Zur Folge haben könnte das die staatliche Bekämpfung der Armen mit Mitteln der Repression, wie es der Sozialwissenschaftler Loïc Wacquant in seiner Studie »Bestrafen der Armen« (2009) untersucht hat. Ihm zufolge ist die Bestrafung der Armen die düstere Seite des Neoliberalismus, der zwar einerseits den schlanken Staat durch den Abbau sozialstaatlicher Leistungen predige, andererseits sich die »unsichtbare Hand« des Marktes aber zur »eisernen Faust« balle, wenn sie es mit den Verlierern und angeblich potenziell Kriminellen des neoliberalen Kapitalismus zu tun bekommt.

Sarrazins Angst vor dem Aussterben der (intelligenten) Deutschen reiht sich ein in die Inanspruchnahme des bürgerlichen »apokalyptischen Demografiediskurses«, der eine Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse darstellt.

Der Historiker Thomas Etzemüller hat in einer historischen Diskursanalyse die Diskussion über den angeblich bald bevorstehenden demografischen Kollaps in Deutschland und Schweden des 20. Jahrhunderts untersucht und sich die Frage gestellt, warum die prognostizierten Entwicklungen bislang nie zutrafen, aber sich der Demografiediskurs dennoch weiter einer großen Beliebtheit erfreute und erfreut. Seine Vermutung: die Diskussion sei eine Erfindung bzw. ein Beschreibungsmodus, um für soziale Veränderungen, die man nicht in den Griff bekommt, wenigstens eine Ursache angeben zu können.[19] Diese Vermutung ist noch zuzuspitzen: Denn der Rekurs auf Bevölkerungsstatistiken etc. stellt eine Naturalisierung von gesellschaftlichen – also von Menschen gemachten und daher auch veränderbaren – Verhältnissen dar. Dem Bevölkerungsdiskurs sind lediglich zwei Parameter zur Veränderung immanent: Raum und Bevölkerung. »Volk ohne Raum« war das Programm der Nazis und bedeutet Eroberungs- und Vernichtungskrieg nach außen und im Inneren die Stigmatisierung von Teilen der Bevölkerung als lebensunwert – mit den bekannten Konsequenzen. Eugenisches Denken und seine Verwirklichung etwa in Form von Zwangssterilisationen gab es indes auch im sozialdemokratischen Schweden, den USA sowie der Sowjetunion. Im Übrigen nimmt Sarrazin ja selbst Bezug auf das sozialdemokratische schwedische Forscherpaar Alva und Gunnar Myrdal, die eugenisches Denken vertraten, die Überfremdung Schwedens konstatierten und Zwangssterilisationen befürworteten. Für die Sozialdemokratie wie für die Linke insgesamt stellt sich hier das Problem, wie bei planerischen Eingriffen in die Gesellschaft, z.B. in Gestalt des Social Engineering – diese Begriff ist in Schweden positiv besetzt – die Balance zwischen utopischem Potenzial und Degradierung der Individuen zu Objekten auszuhalten ist.[20] Heute ist der umgedrehte Nazislogan »Raum ohne Volk« (Spiegel-Titelbild vor zehn Jahren) Leitprogramm von Elitenvertretern wie Gunnar Heinsohn (der das Wachsen der Unterschicht durch die Streichung von Hartz IV bekämpfen will) oder eben Sarrazin. Ihm kommt der zweifelhafte Verdienst zu, den allgegenwärtigen Demografiediskurs erneut mit der Eugenik kurzzuschließen. Denn genau das war er Etzemüller zufolge geschichtlich immer. Dieser charakterisierte den Bevölkerungsdiskurs überdies als bürgerliches Phänomen, weil es immer um die Angst der Mittelschicht gehe.[21]

Die derzeitige Integrationsdebatte meint im Kern eine verkappte Assimilation und nimmt repressivere Züge an. Sie steht damit in Widerspruch zum Grundgesetz, welches festlegt, dass niemand seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse (sic!), seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen wegen benachteiligt oder bevorzugt werden darf.

In seiner Replik auf den konservativen Staatsrechtler Josef Isensee argumentiert Ulrich K. Preuß, dass ein Verfassungsstaat, der rund 20 Prozent seiner Bevölkerung gleiche staatsbürgerliche Rechte nur unter der Bedingung gewähre, dass sie sich unauffällig in die Gesellschaft der Autochthonen integriere, seine eigenen normativen Grundlagen verletze. Diese verpflichteten ihn, das individuelle Recht auf Verschiedenheit und deren sichtbaren Äußerungen anzuerkennen. Eine feststehende, unwandelbare kulturelle Identität – die deutsche Leitkultur – gebe es nicht. Die Antwort, die Sarrazin und andere auf die Überfremdungsängste geben – nämlich Schutz des deutschen Volkes und seiner Identität – ist somit eine Antwort auf eine falsch gestellte Frage bzw. ein falsches Problembewusstsein. Die richtige Frage, so Preuß, laute vielmehr: »Welches sind die begünstigenden, welches die abträglichen Bedingungen dafür, dass Individuen mit unterschiedlicher sozialer, geographischer und ethnischer Herkunft und kultureller Prägung sich an den Bildungs- und Willensbildungsprozessen eines gemeinsam zu schaffenden gesellschaftlichen und in der Konsequenz auch politischen ›Wir‹ beteiligen und Regeln wechselseitiger Achtung erzeugen und befolgen?« Diese Frage schließe die Möglichkeit ein, dass Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen an den Prozessen der Herstellung und Wahrung eines gesellschaftlichen »Wir« nicht teilhaben, sei es, dass sie ausgegrenzt werden, sich selbst ausschließen oder nicht über die erforderlichen Ressourcen für die Teilnahme verfügen.[22] Konkret: Das Problem der migrationsspezifischen Integration gibt es, es hat seine Ursache jedoch in erster Linie in soziopolitischen Ursachen, die im Verantwortungsbereich der Politik und der Mehrheitsgesellschaft liegen. Die Herstellung gleicher Lebenschancen und nicht der Schutz einer deutschen Leitkultur sei die eigentliche Aufgabe. Da die deutsche Mehrheitsgesellschaft über die Möglichkeiten, Ressourcen und Machtmittel für die Herstellung dieser Lebensbedingungen verfügt, fällt die Integrationsbilanz der Bundesrepublik somit schlecht aus – ganz abgesehen von dem erwähnten völkisch-homogenen Denken, welches Fremde ausschloss. Integration, darauf wies Peter Kruschwitz (Freitag 16.9.2010) mit Rekurs auf deren semantische Bedeutung (Erneuerung) hin, bedeutet also nicht, dass sich Deutschland abschafft, sondern dass es sich erneuert bzw. im steten Wandel begriffen ist.

 

[1] Patrick Bahners, Fanatismus der Aufklärung. Zur Kritik der Islamkritik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2010

[2] Albrecht von Lucke, Sarrazins Untergang des Abendlandes, in: taz, 10.9.2010

[3] Vgl. etwa die von Wilhelm Heitmeyer herausgegebenen Bände »Deutsche Zustände«, sowie die Studien der Friedrich Ebert Stiftung, »Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland« und »Ein Blick in die Mitte«.

[4] Eberhard Seidel, In welche Richtung verschieben sich die medialen Diskurse zum Islam?, in: Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, Folge 6, Frankfurt/Main 2006, S. 258.

[5] Vgl. Christoph Butterwegge, Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002.

[6] Dieter Oberndörfer, Deutschland zwischen historischer Abwehrhaltung und unausweichlicher Öffnung gegenüber (muslimischen) Fremden, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009, S. 129.

[7] Mohssen Massarrat, Islam und Demokratie: Ein Widerspruch?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2010

[8] Vgl. das Kapitel Gegenbilder und Gegenrealitäten in: Achim Bühl, Islamfeindlichkeit in Deutschland. Ursprünge, Akteure, Stereotype, Hamburg 2010 (im Erscheinen).

[9] Robert Misik, Das Kult-Buch. Glanz und Elend der Kommerzkultur, Berlin 2007, S. 178.

[10] Iman Attia, Die »westliche Kultur« und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld 2009.

[11] Vgl. Andreas Zielcke, Angst und Wahrheit, in SZ, 10.9.2010, Ulrike Herramnn/Alke Wierth, Die Gene sind schuld, in: taz, 29.8.2010.

[12] Vgl. das erste Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, http://www.svr-migration.de/?page_id=2019. Vgl. dazu auch Heribert Prantl, Willkommen, SZ, 11./12.9.2010.

[13] www.uni-rostock.de/detailseite/news-artikel/geburtenzahlen-sinken-auch-bei-migrantinnen-schon/

[14] Herbert Brücker, Arbeitsmarktwirkungen der Migration, in: ApuZ, 44/2009

[15] Bühl, a.a.O.

[16] Ulrich K. Preuß, Kein Ort, nirgends. Die vergebliche Suche nach der deutschen Leitkultur – Eine Replik auf Josef Isensee, in Blätter 6/2010

[17]Vgl. zum Sozialrassismus Rudolf Stummberger, Der neue Untergang des Abendlandes. Wie aus der bürgerlichen Mitte Sozialrassismus wieder hoffähig gemacht wird, in: Sozialismus 9/2010; Michael Klundt, Neoliberaler Wettbewerbsstaat und (Klassen-)Rassismus in Wissenschaft, Politik und Medien, in: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 83, September 2010, S. 151-162.

[18] Albert Scharenberg, Kampfschauplatz Armut. Der Unterschichtendiskurs in den Vereinigten Staaten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2007, S. 191f..

[19] Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 12.

[20] Vgl. dazu Thomas Etzemüller, Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden, Bielefeld 2010; Thomas Steinfeld, Der Volksverbesserer. Thilos Sarrazin und das Erbe der Sozialdemokratie, in: SZ, 1.9.2020.

[21] Thomas Etzemüller, »Das Denken ist noch ansteckend«, Interview im Tagesspiegel, 30.8.2010.

[22] Preuß, a.a.O., S. 78.

(aus: Sozialismus 10/2010)

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