Nicht nur mit den USA, auch mit den Ländern des globalen Südens verhandelt die EU über den Abbau von Handelsschranken. Zwar ist Freihandel ein schöner Slogan, im Kern geht es dabei jedoch um die Absicherung von Macht und Herrschaft und um ein Ausbeutungsverhältnis, das den entwickelten kapitalistischen Staaten und ihren global operierenden Konzernen Absatzmärkte sichern soll. Droht eine neokoloniale Weltordnung?
Soll später niemand behaupten, man hätte es nicht gewusst: Wird das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Indien tatsächlich abgeschlossen – im Juni findet eine weitere Gesprächsrunde statt –, droht der indische Milchsektor durch subventioniertes Milchpulver und Butterfett aus der EU niederkonkurriert zu werden – mit verheerenden Folgen für die schätzungsweise 90 Millionen Menschen, die in diesem Wirtschaftszweig arbeiten. Dabei hatte gerade dieser Sektor bereits 1999 die fatalen Folgen von Handelsliberalisierungen zu spüren bekommen: In jenem Jahr öffnete die indische Regierung den durch hohe Zölle geschützten Milchsektor für Importe aus anderen Staaten. Die Konsequenz: Der Milchpreis fiel ins Bodenlose und gefährdete die Existenz von Millionen Kleinbauern. Nach massiven Protesten musste die indische Regierung die Zölle wieder einführen.[1] Auch dem indischen Einzelhandel, mit 37 Millionen Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitsmarkt, drohen bei Abschluss des EU-Indien-Freihandelsabkommens extreme soziale Verwerfungen. Zwölf Millionen kleinere Einzelhändler könnten einer Studie zufolge ihre Existenzgrundlage verlieren.[2] Wenn aber schon ein aufstrebender Schwellenstaat wie Indien einige seiner Wirtschaftssektoren nicht vor den dramatischen ökonomischen und sozialen Folgen des Freihandels schützen kann, wie steht es dann erst um Länder, die wirtschaftlich weitaus schwächer sind – wie etwa die sogenannten Entwicklungsländer der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP-Staaten)?
Zwang statt Dialog: Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
Derzeit versucht die EU, ihre Handelsbeziehungen gerade mit diesen Staaten mittels der „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“ (Economic Partnership Agreement, EPA) neu zu verhandeln – im Kern läuft auch dies auf die Ausweitung des Freihandels hinaus.
Bis zum Jahr 2000 regelte das Lomé-Abkommen die Handelsbeziehungen zwischen Europa und den AKP-Staaten. Dieses hatte zum Ziel, die ehemaligen, zumeist britischen und französischen, Kolonien wirtschaftlich zu fördern, und gewährte diesen daher einseitige Handelsvorteile. Die Welthandelsorganisation (WTO) sah darin jedoch einen Widerspruch zu ihren Freihandelsprinzipien und strengte neue Verhandlungen zur Liberalisierung des Handels an. Doch die Doha-Runde der WTO musste im Jahr 2008 ohne Ergebnis abgebrochen werden: „Entwicklungsländer“ und vor allem das Schwellenland Indien weigerten sich, ihre Schutzzölle auf Agrargüter abzubauen, denn sie befürchteten, dass ihre einheimische Agrarproduktion durch die Importe aus den hoch industrialisierten Staaten zerstört werden würde – angesichts zahlreicher Beispiele, etwa in Ghana und Kamerun, eine sehr berechtigte Furcht. [3]
Die EU wie auch die Vereinigten Staaten sind daher dazu übergegangen, bilateral mit Staatengruppen und einzelnen Staaten Handelsabkommen zu verhandeln und abzuschließen. (Übrigens auch zwischen ihnen selbst, wie die anlaufenden Verhandlungen über Transatlantische Freihandelsabkommen zeigen.) Das Besondere an dieser Strategie ist, dass die Ziele noch viel weitreichender sind als die innerhalb der WTO. Nicht nur beim Handel mit Gütern, sondern auch bei Dienstleistungen, Investitionsbedingungen und geistigen Eigentumsrechten, beim öffentlichen Auftragswesen und der Wettbewerbspolitik fordert die Union Liberalisierungsschritte von den Ländern des globalen Südens.[4]
Die wirtschaftlichen Folgen solcher Wirtschaftspartnerschaftsabkommen dürften für die betroffenen Staaten eindeutig negativ ausfallen: Ein Ausschuss der Französischen Nationalversammlung prognostizierte in einem Bericht vom Juli 2006, eine Marktöffnung führe bei den AKP-Staaten erstens zu einem Haushaltsschock wegen der zu erwartenden Einnahmeverluste aufgrund der wegfallenden Importzölle, zweitens zu einem Außenhandelsschock durch sinkende Wechselkurse, drittens zu einem Schock für die im Aufbau befindlichen Industriesektoren und viertens zu einem landwirtschaftlichen Schock, da lokale Produzenten mit den Billigimporten aus der EU nicht konkurrieren könnten.[5]
Der Gewerkschafter und Koordinator des Programms „Alternativen zum Neoliberalismus in Südafrika“, Timothy Kondo, befürchtet sogar, die betroffenen Staaten würden zum „Teil eines Plans der EU zur Rekolonisierung“.[6]Auch aufgrund der Proteste sozialer Bewegungen pochen die betroffenen AKP-Staaten darauf, die Hoheit über ihre wirtschaftspolitischen Räume und damit die Chance zur „Entwicklung“ behalten zu können. Die meisten AKP-Staaten willigten daher bislang nur in sogenannte Interimsabkommen ein,die lediglich die Handelsliberalisierung von Handelsgütern betreffen. Nur die karibischen Staaten haben bisher EPA-Abkommen unterzeichnet. Die ausstehenden Abschlüsse will die EU nun bis zum Jahr 2014 aushandeln. Der Zustimmung zu den Abkommen will sie im Notfall mit der Streichung von Entwicklungshilfegeldern nachhelfen. Zudem überlegt sie, ob sie jenen Staaten, die zwar über die EPAs verhandeln, allerdings noch keines abgeschlossen haben, den Zugang zum EU-Markt verwehren soll. Diese Drohung wiederholte sie unlängst gegenüber Namibia; die größte namibische Tageszeitung „The Namibian“ kommentierte dies mit dem Titel „Die EU zieht die Handelsschrauben an“.[7] Überdies dürfte der Umstand, dass die EU mit einzelnen Staaten anstatt mit Staatengruppen in Afrika und den pazifischen Staaten verhandelt, diese mächtig unter Druck setzen. Denn die EU ist so in der Lage, ihre weit höhere Ausstattung mit Geld, Kompetenz und Personal voll auszuspielen – und damit regionale Integrationsprozesse zu torpedieren.
Ablassé Ouédraogo, der ehemalige stellvertretende Generaldirektor der WTO, fasst den Stand und die Problematik der EPA-Verhandlungen wie folgt zusammen: „Nach sieben Jahren vergeblicher Diskussionen versucht Europa nun, die EPAs mit Zwang statt Dialog durchzusetzen. Wenn die Abkommen in ihrer derzeitigen Form endgültig in Kraft treten würden, würden sie den AKP-Staaten die wichtigsten politischen Instrumente, die sie für ihre Entwicklung benötigten, verwehren.“[8]
Knackpunkt Ausfuhrsteuern
Insbesondere die Ausfuhrsteuern sind ein Knackpunkt bei den Verhandlungen um die EPAs zwischen der EU und den AKP-Staaten. Für viele Staaten des globalen Südens sind Ausfuhrsteuern ein wichtiges wirtschafts- und entwicklungspolitisches Instrument. Die Erhebung von Steuern beim Export von Rohstoffen stellt zum einen eine wichtige Einnahmequelle für den Staatshaushalt dar; des Weiteren trägt sie dazu bei, dass im eigenen Land weiterverarbeitende Industriezweige entstehen können, und nicht zuletzt können Ausfuhrsteuern auch dem Ressourcen- und Umweltschutz dienen. Sie sind sicher kein Allheilmittel, aber Beispiele belegen, dass sie zur Förderung von Weiterverarbeitung und Fertigung sowie damit verbundener Dienstleistungen beitragen können – eine Voraussetzung für „Entwicklungsländer“, sich aus ihrer Rolle als Rohstofflieferant zu befreien.
Ein Beispiel: Die kenianische Regierung erhebt Ausfuhrsteuern von 40 Prozent auf unverarbeitete Felle und Häute mit dem Ziel der Förderung der Binnenlederverarbeitung. Eine Untersuchung zeigt, dass durch die Steuer Tausende von Arbeitsplätzen entstanden sind und die Einkommen von weiteren 40 000 Menschen erhöht werden konnten. Des Weiteren sind die Gesamteinkünfte in der kenianischen Lederverarbeitung um mehr als acht Mio. Euro angestiegen, ein weiteres Wachstum sei nicht ausgeschlossen. Mit einem EPA indes müsste die Ausfuhrsteuer drastisch gesenkt werden.[9] In dem bisher einzigen unterzeichneten umfassenden EPA – das mit den karibischen Staaten – sind Ausfuhrsteuern bis auf wenige Sonderfälle verboten (und sie sind ebenso verboten in dem im Dezember 2012 unterzeichneten und im Mai in Deutschland ratifizierten Freihandelsabkommen der EU mit Kolumbien und Peru). Auch das Interim-EPA beispielsweise mit Kamerun erlaubt Exportsteuern nur im Falle von massiven Störungen der Staatsfinanzen und zum Zweck des Umweltschutzes – nicht jedoch zum Schutz von lokaler Produktion oder zur Erhöhung von Staatseinnahmen.[10]
Dabei verstoßen Ausfuhrsteuern keineswegs gegen WTO-Regeln, und auch völkerrechtlich ist es der sogenannten Prinzipienerklärung der UNO von 1970 zufolge zulässig, dass Staaten ihren Wirtschaftsraum durch protektionistische Maßnahmen schützen, dass sie Export- und Importbeschränkungen, Schutzzölle und Warenkontingentierungen einführen, sich ihre Handelspartner frei auswählen oder mitunter auf Handel ganz verzichten.[11]
Droht eine neokoloniale Weltordnung?
Angesichts der zu befürchtenden negativen Auswirkungen der EPAs für die Ökonomien der Länder des globalen Südens sprechen einige Autoren daher bereits von einer neokolonialen Weltordnung. Der nigerianische Ökonom Soludo etwa vergleicht die von Brüssel vorangetriebenen EPA-Verhandlungen mit der Berliner Konferenz von 1884-85, auf der die europäischen Großmächte Afrika unter sich aufteilten[12] – im Nachhinein vielleicht das Symbol des historischen Kolonialismus schlechthin.
Doch sind es nicht vielmehr die normalen Funktionsprinzipien des kapitalistischen Weltsystems, die im Süden der Wahrnehmung einer neokolonialistischen Weltordnung Vorschub leisten? Zu diesem Schluss kommt der Politikwissenschaftler Aram Ziai: „Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die betreffenden Phänomene oft nichts weiter sind als die ‚ganz normalen’ Auswüchse der aus einem globalisierten Kapitalismus und Staatensystem bestehenden Weltordnung.“ Die legitime marktwirtschaftliche und liberaldemokratische Normalität der einen sei somit der Neokolonialismus der anderen.[13] Demzufolge handelt es sich um eine Wahl der Perspektive: Der privilegierte Norden nennt es – affirmativ – liberale Marktwirtschaft oder kritisch einen Auswuchs des globalisierten Kapitalismus, der unterprivilegierte Süden Neokolonialismus.
In letzterem Fall würde der Begriff Kolonialismus dann freilich sehr weit angewandt, nämlich auf beinahe alle Formen asymmetrischer Beziehungen. Die Spezifik des Begriffs – gerade in Abgrenzung zur historischen Epoche des Kolonialismus – ginge verloren, weil zentrale Merkmale des klassischen Kolonialismus, wie die direkte staatliche Beherrschung eines anderen Landes und das Überlegenheitsgefühl gegenüber „Andersartigen“, gegenwärtig fehlen. Vielleicht wäre daher heute besser von einem „Kolonialismus auf Samtpfoten“ zu sprechen. Eines jedoch steht fest: Eine Jahrhunderte überdauernde Kontinuität lässt sich unbestritten ausmachen: der Versuch der Europäer (und anderer industrialisierter Staaten), sich die Ressourcen und Reichtümer fremder Länder und Meere[14] anzueignen.
Der europäische Rohstoffraub
Vor dem Hintergrund der knapper und damit teurer werdenden Rohstoffe und der aufstrebenden Konkurrenz aus Indien, China, Brasilien und Russland, die ebenfalls Anspruch auf begehrte Bodenschätze erheben, bemüht sich die EU darum, den in ihnen beheimateten Großkonzernen eine gute Geschäftsgrundlage, sprich: unbegrenzten und billigen Zugang zu Rohstoffen, zu sichern. Viele der Ressourcen befinden sich in Afrika – aufgrund des europäischen Imperialismus einer der wirtschaftlich am wenigsten entwickelten Kontinente der Welt. Die Handelspolitik der EU ist dabei eingebettet in die sogenannte Global-Europe- und Lissabon-Strategie der EU-Kommission. Diese verfolgt das Ziel, aus Europa den „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen.
Im Kontext der Global-Europe-Strategie ist auch die 2008 vorgestellte „Rohstoffinitiative“ der EU zu verorten, deren vorrangiges Ziel die „faire und dauerhafte Versorgung mit Rohstoffen von den Weltmärkten“ ist. Das Wörtchen „fair“ kann dabei unter postkolonialer Rhetorik verbucht werden, entscheidend ist der Anspruch der EU auf Befriedigung des kapitalistischen Wachstumszwangs, der ohne den permanenten Nachschub an Rohstoffen nicht möglich ist. Ungeachtet der kolonialen Vergangenheit Europas wird hier gleichsam die Ausübung neokolonialer Praktiken eingefordert. Neokolonial deshalb, weil die Rohstofflieferanten im Unterschied zur klassischen Epoche des Kolonialismus formal souverän sind und die neokolonialen Praktiken in der Regel in einem rechtlichen Rahmen, sei es innerhalb der WTO oder besagter Freihandelsabkommen, erfolgen – und das mit Unterstützung moderner bürgerlicher Klassen in den Ländern des globalen Südens.
Die Nichtregierungsorganisationen (NGO) medico international und Attac kritisieren die EU-Rohstoffinitiative daher auch als „Rohstoffraub“. Der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen verpflichtet, so die Kritik, nehme die Rohstoffinitiative der EU billigend in Kauf, dass den armen Ländern ihr natürlicher Reichtum entwendet werde. Zwar handelt es sich in Abgrenzung zum klassischen Kolonialismus nicht primär um gewaltsam erzwungenen Raub bzw. um die Öffnung von Märkten mit Kanonen. Die Anwendung von kriegerischen Mitteln ist jedoch auch nicht ausgeschlossen. Ein Blick in die jüngsten verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2011 zeigt, dass kriegerische Gewalt zur Aufrechterhaltung des Zugangs Deutschlands und Europas zu Rohstoffen erneut als Aufgabe definiert wird.[15]
Doch gegenwärtig üben die Staaten des globalen Nordens in erster Linie strukturelle Macht aus – etwa über die Wirtschaftspartnerschafts- oder Freihandelsabkommen. Was das aber für die Lohnabhängigen, Kleinbauern und informell Beschäftigten der betroffenen Länder bedeutet, zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Eine Studie der britischen NGO „War on Want“ zufolge haben Millionen Menschen in Afrika und Lateinamerika im Zuge der von IWF und Weltbank durchgesetzten Liberalisierungen mittels der berüchtigten Strukturanpassungsprogramme ihren Job verloren und sind in (extreme) Armut abgerutscht.[16] Ähnliche Konsequenzen befürchten die NGOs Oxfam und WEED auch für die Zukunft. Die EU-Strategie führe im schlimmsten Fall zu einem Ressourcenraub, „der Teil eines neuen Kampfes um Afrika und andere Regionen ist und der Entwicklungsländer in eine neue Spirale der Armut treiben wird“.[17]
Was sind die Alternativen?
Was aber sind die Alternativen? Aus Sicht der „Entwicklungsländer“ ist ein wesentliches Element die Beibehaltung bzw. Einführung einer sogenannten protektionistischen Politik. So plädiert Timothy Kondo mit Blick auf Südafrika für eine solche, „bis die technische, institutionelle und wissensbasierte Kluft zwischen den Entwicklungsländern und den industrialisierten Ländern geschlossen ist“.[18]
Protektionismus ist nämlich mitnichten Teufelszeug, wie die gegenwärtigen Verfechter des Freihandels immer wieder behaupten. Im Gegenteil: Heute führende kapitalistische Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die USA und jüngst auch südostasiatische Staaten haben ihre im Entstehen befindlichen Industriezweige einst selbst mit Importkontrollen und Schutzzöllen vor der Weltmarktkonkurrenz geschützt. Protektionismus war sogar oftmals die Voraussetzung für Industrialisierung und wirtschaftliche „Entwicklung“, wie der südkoreanische Wirtschaftswissenschaftler Ha-Joon Chang in seinem Buch „Bad Samaritans“ zeigt. England etwa habe 150 Jahre lang auf Protektionismus gesetzt, bevor es zum Freihandel überging. Chang fasst dieses Phänomen mit dem auf Friedrich List zurückgehenden Ausdruck kicking away the ladder zusammen: Das Mittel Protektionismus, mit dem die sogenannte Erste Welt ihren ökonomischen Aufstieg geschafft hat, wird den anderen vorenthalten und stattdessen ein freier Markt, Deregulierung und Liberalisierung gepredigt und durchgesetzt.
Auch heute noch betreiben führende kapitalistische Staaten wie die USA oder die Mitglieder der EU still und heimlich in bestimmten Sektoren eine subventionsprotektionistische Politik. Das Musterbeispiel dafür ist der Agrarbereich, den sie durch milliardenschwere Hilfen vor der Konkurrenz aus anderen Staaten schützen. Eine Studie des Overseas Development Institute äußerte sogar die Sorge, dass die Politik der EU zukünftig durch noch mehr Protektionismus geprägt sein werde.[19]
Wann protektionistische Maßnahmen eingesetzt werden, um bestimmte Wirtschaftsbereiche zu schützen, und wann nicht, hängt dabei von der Stärke der einzelnen wirtschaftlichen Sektoren ab. Solange bestimmte Konzerne und Industriezweige nicht reif für den rauen Weltmarkt sind, werden sie geschützt. Sobald sie indes den globalen Wettbewerbsbedingungen standhalten und Konkurrenten ausschalten können, wird Freihandel gepredigt und praktiziert. Jüngstes Beispiel hierfür ist der schwelende Streit um die Subventionierung alternativer Energieformen. Auch dank der Förderung durch nationale Regierungen waren die europäischen Solarzellenhersteller bis vor kurzem führend auf dem Weltmarkt. Als die chinesischen Produzenten anfingen, ihnen den Rang abzulaufen, griffen sie zu rechtlichen Mitteln und reichten Klagen auf unlauteren Wettbewerb bei der EU ein.
Das Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie spricht daher von einer „im real existierenden Freihandel waltenden Doppelmoral“: Der globale Norden verordne dem globalen Süden offene Märkte, sei aber selbst noch weit davon entfernt, seine eigenen Märkte zu öffnen. Die Trägerin des Alternativen Nobelpreises, die indische Ökofeministin Vandana Shiva, bezeichnet den Freihandel als ein asymmetrisches Arrangement, das Liberalisierung mit Protektionismus für westliche Interessen kombiniere.[20] Und der Politikwissenschaftler Jeremy Leaman hält die Forderung nach Freihandel für einen Ausdruck der Stärke der „Ersten Welt“. Die ihr zugehörigen Länder verfechten den Abbau der Zolltarife, wenn sie als Nation oder Region einen Produktivitäts- und Qualitätsvorsprung haben und der Güterexport zunehmend zum Vehikel der Wachstumsdynamik geworden sei. „Rhetorisch wirbt man für die Akzeptanz des Freihandels, indem man nach Ricardo den eigenen Vorteil als einen Gewinn für alle Beteiligten verabsolutiert – wohl wissend, dass die Vorteile bestenfalls asymmetrisch verteilt sein werden.“[21]
Kurz: Freihandel ist ein schöner Slogan, im Kern geht es jedoch um die Absicherung von Macht und Herrschaft und um ein Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis, welches den entwickelten kapitalistischen Staaten und ihren global operierenden Konzernen weiterhin Absatzmärkte und Profite sichern soll. Hinter der Verteufelung des Protektionismus verbirgt sich letztendlich vor allem die Furcht der herrschenden Klasse, in ihrer ökonomischen und politischen Machtstellung angegriffen zu werden. Dass für die Repräsentanten der Nordhalbkugel die sozialen Folgen ihrer Politik auf der Südhalbkugel zweitrangig sind, zeigt ein Zitat Vital Moreiras, des Vorsitzenden des EU-Ausschusses für internationalen Handel. Auf die Kritik von „Dritte-Welt-Gruppen“, die ihn auf die Gefahren des Freihandels für indische Kleinbauern aufmerksam machten, erwiderte er: „Ich repräsentiere die Interessen der Europäischen Union, der Wirtschaft, der Konsumenten, der Beschäftigten. Das sind meine ersten und wichtigsten Verpflichtungen, nicht die Interessen Indiens. Die wirtschaftlichen und sozialen Interessen Indiens sollten von Ihrer Regierung wahrgenommen werden.“[22]
Dennoch: Bei der Suche nach Alternativen zum Freihandel allein auf Protektionismus zu setzen, würde der komplexen Realität des globalen Marktes nicht gerecht; die Diskussion um Freihandel versus Protektionismus ist zu grob und zu eng gesteckt. Vielmehr müssten protektionistische Maßnahmen mit einer Importsubstitution verbunden werden, denn tatsächlich, so betont etwa der Professor für politische Ökonomie an der London School of Economics, Robert Hunter Wade, liege „die zentrale Herausforderung für die nationale Entwicklungspolitik nämlich darin, durch die entsprechende Kombination des Prinzips des komparativen Vorteils mit dem Prinzip der Importsubstitution eine Höherentwicklung und Erweiterung der nationalen Produktion zu erreichen“.[23] Das müsse nicht unbedingt mit Protektion einhergehen. Strategisches Wirtschaften verlange Freihandel oder Protektion oder Subventionen oder eine Kombination von alledem, je nach den Umständen und dem Industrialisierungsniveau eines Landes.
Darüber hinaus sollte sich die Diskussion um Alternativen noch mit einer weiteren Frage auseinandersetzen – nämlich der, wie die Nord-Süd-Beziehungen zukünftig insgesamt gerechter gestaltet werden könnten, wie etwa ein „alternatives de-globalisiertes System der Global Governance“ (Walden Bello) aufzubauen wäre.[24] Folgende Prinzipien und Fragen wären hier zu nennen: fairer Handel, Binnen- statt Exportorientierung, Re-Regulierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte, Demokratisierung von Investitionsentscheidungen, Subsidiaritätsprinzip in der Ökonomie und Streichung der Schulden für die Länder des globalen Südens. Schließlich muss auch die Frage aufgeworfen werden, wie insbesondere (aber nicht nur) die schlimmsten, an die Ära des Kolonialismus erinnernden Auswüchse des globalisierten Kapitalismus überwunden werden können – das indes wäre ein Kapitel für sich.
Anmerkungen
[1] Vgl. Christine Chemnitz und Armin Paasch, EU-Indien: Die ungleiche Partnerschaft, in: „Blätter“, 2/2012, S. 19-22, hier S. 20 sowie Dominik Müller, Die Handelsinvasoren kommen, Eine Geschichte aus Indien von Gewinnern und Verlierern, www.dradio.de, 19.3.2013.
[2] Vgl. Shefali Sharma, Die Fesseln des EU-Indien-Freihandelsabkommens. Die indische Wirtschaft im Visier der Europäischen Union, Berlin 2009, S. 3.
[3] Vgl. etwa die Studie „The Policy Roots of Economic Crisis and Poverty. A Multi-Country Participatory Assessment of Structural Adjustment“, Washington D.C., www.saprin.org.
[4] Vgl. Mark Curtis, Die neue Jagd nach Ressourcen: Wie die EU-Handels- und Rohstoffpolitik Entwicklung bedroht, Hg. von Oxfam e.V. und WEED e.V., Berlin 2010, S. 13, www.oxfam.de.
[5] Vgl. Annette Groth und Theo Kneifel, Europa plündert Afrika. Der EU-Freihandel und die EPAs (AttacBasisText 24), Hamburg 2007, S. 62.
[6] Timothy Kondo, Alternatives to the EU’s EPAs in Southern Africa. The case against EPAs and thoughts on an alternative trade mandate for EU policy, o.O. 2012, S. 6, www.comhlamh.org.
[7] EU tightens trade screws, in: „The Namibian“, 25.3.2013.
[8] Zit. nach Curtis, a.a.O., S. 13.
[9] Ebd. S. 5.
[10] Ebd., S. 25.
[11] Vgl. Norman Paech und Gerhard Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Akt. Ausgabe, Hamburg 2013, S. 731.
[12] Vgl. Chukwuma Charles Soludo, From Berlin to Brussels: Will Europe Underdevelop Africa Again?, in: „ThisDayLive“, 19.3.2012, www.thisdaylive.com.
[13] Vgl. Aram Ziai, Neokoloniale Weltordnung? Brüche und Kontinuitäten seit der Dekolonisation, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 44-45/2012, S. 23-30.
[14] Vgl. Jean-Sébastien Mora, Europas Raubzüge zur See, in: „Le Monde diplomatique“, 11.1.2013, S. 1.
[15] Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien. Nationale Interessen wahren – Internationale Verantwortung übernehmen – Sicherheit gemeinsam gestalten, 18.5.2011, S. 3 f., www.bmvg.de.
[16] War on Want (Hg.), Trading Away Our Jobs. How free trade threatens employment around the world, London 2009, www.waronwant.org.
[17] Curtis, a.a.O., S. 4.
[18] Kondo, a.a.O., S. 9.
[19] Vgl. Overseas Development Institute, The next decade of EU trade policy: Confronting global challenges?, www.odi.org.uk.
[20] Vandana Shiva, Biopiraterie – Kolonialismus des 21. Jahrhunderts. Eine Einführung, Münster 2002, S. 122.
[21] Jeremy Leaman, Hegemonialer Merkantilismus. Die ökonomische Doppelmoral der Europäischen Union, in: „Blätter“, 2/2008, S. 76-90, hier S. 77.
[22] Zit. nach Müller, a.a.O., S. 21.
[23] Vgl. Robert Hunter Wade, Welche Strategien bleiben den Entwicklungsländern heute? Die Welthandelsorganisation und der schrumpfende „Entwicklungsraum“, in: Ahalini Randeria und Andreas Eckert, Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf Globalisierung, Frankfurt a. M. 2009, S. 260. Vgl. auch Christina Deckwirth und Michael Frein, Zwei-Klassen-Protektionismus, in: „Blätter“, 12/2009, S. 13-16.
[24] Vgl. Walden Bello, De-Globalisierung. Widerstand gegen die neue Weltordnung, Hamburg 2005, sowie Alternativen zur Tyrannei der neoliberalen Globalisierung. Manifest von Porto Alegre vom 29.1.2005 (Wortlaut), in: „Blätter“, 5/2005, S. 382-384.
(aus: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2013, S. 59-66)