Autobiografisches Erzählen scheint derzeit einen Nerv zu treffen. Als erstes denkt man an Karl Ove Knausgård. Aber auch die Langzeitprojekte von Peter Kurzeck, Gerhard Henschel, Andreas Maier, des Norwegers Tomas Espedal oder des Niederländers J.H. Voskuil sind zu nennen. Jeder von ihnen hat seine eigene Art des Schreibens gefunden. Bleiben wir bei den Norwegern. Knausgård liebt die epische Breite. Die Schilderung eines Kindergeburtstages zieht sich bei ihm über fünfzig Seiten hin. Fünfzig Seiten – das ist ein Viertel des jüngsten Buches von Espedal, übrigens gut mit Knausgård bekannt. Der 1961 Geborene liebt die Verdichtung. Er sagt das, wofür Knausgård Dutzende von Seiten benötigt, in zwei, drei Sätzen. Seine Prosa ist lyrisch. An einer Stelle des neuen Buches »Wider die Kunst« schreibt er: »Ich wollte Romane schreiben, als wären sie Lyrik.« Das gelingt ihm.
Die Ausgangslage des zweiten Teils der »Notizbücher« lautet: »Uns ist gemeinsam, meiner Tochter und mir, dass wir beide unsere Mütter verloren haben.« Der Einstieg erinnert an die Erzählung »Wunschloses Unglück« von Peter Handke – allein der Verlust des Ich-Erzählers ist mit Mutter und ehemaliger Partnerin ein doppelter. Tatsächlich nimmt Espedal auch auf Handkes Text Bezug.
Espedal schildert seine Versuche, den Alltag mit seiner pubertierenden Tochter nach den Todesfällen zu bewältigen. Er bemüht sich, seiner Tochter die Mutter zu ersetzen – und fällt damit aus seiner Rolle als Vater. »Aber das Kind war unzufrieden, es vermisste nicht nur seine Mutter, jetzt vermisste es auch noch den Vater.« Der trauerschwere Mann fürchtet, den Verstand zu verlieren, dass ihm die Tage entgleiten, er verlassen wird, dass ihn die Tochter eines Tages anruft und sagt, sie ziehe jetzt in eine andere Stadt. Der weitere Schrecken ereilt ihn aber nicht in dieser Form, sondern Hunde fallen die Katze an, die er von seiner verstorbenen Partnerin übernommen hat, und reißen sie in Stücke. Doch das Tier lebt, der Protagonist muss sie töten. Daraufhin beschließt er, das Haus auf der Insel Aksoy aufzugeben und wegzuziehen.
Angesichts des Todes seiner Mutter erinnert er sich an ihr Leben und das anderer Verwandter. Die Erinnerungen an die Vorfahren, aber auch an die eigene Vergangenheit, werden kursorisch eingeflochten. Es ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, über wen gerade geschrieben wird. Klar ist jedoch, dass in der Familiengeschichte verschiedene soziale Klassen aufeinandertreffen. Überwiegend ist es ein Arbeiterklassenhintergrund, der Einfluss auf die Art des Schreibens Espedals zeitigt: »Wir arbeiteten, um die Armut fernzuhalten, diese Familienschwäche, diese konstante Sorge, nicht genug Geld zu haben, die Familie nicht versorgen zu können, sie wurde vererbt, um Geld zu verdienen, und ich schrieb, als wäre ich in einer Fabrik angestellt.«
»Wider die Kunst« endet versöhnlich. Der Erzähler ist unendlich froh, zu Hause zu sein. Den Leser lässt es zwar weniger verstört als nach der Lektüre von Handkes »Wunschloses Unglück« zurück, gleichwohl in dem Bewusstsein, ein stilles und doch intensives Buch aus der Hand zu legen.
Thomas Espedal: Wider die Kunst (Die Notizbücher). Matthes & Seitz. 192 S., 19,90 €
aus: neues deutschland, 21.12.2015