Wem gehört Sylt?

Alle haben Kummer: Dörte Hansen erzählt in ihrem Roman »Zur See« von einer Familie, die unter dem Druck des Tourismus auseinanderbricht

Im Juli war auf der Titelseite des »Spiegel« zu lesen: »SOS Sylt. Wie Multimillionäre die Insel kapern«. Es war die Zeit, als Punks mit dem 9-Euro-Ticket auf die Nordseeinsel fuhren und FDP-Chef Christian Lindner dort seine Luxushochzeit feierte. Tenor der Recherche: Superreiche motzen ihre Zweit- oder Drittwohnung auf, während den Alteingesessenen das Leben auf der Insel zu teuer wird. Weiterlesen

Im Startblock verkümmert

Die beste Entfremdungsliteratur seit Wilhelm Genazino: Andreas Lehmanns Roman »Schwarz auf Weiß«

Es sind Berufe, die Protagonisten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur selten haben: Vertriebsangestellter, Industriekaufmann oder Produktmanagerin. Sie arbeiten in Firmen, die Dinge verkaufen, denen man meist nur Beachtung schenkt, wenn sie nicht funktionieren: Snackautomaten, Wasserkocher oder Stabmixer. Oder unter denen man sich gar nichts vorstellen kann, wie unter Industrieverpackungen. Das klingt alles andere als schillernd. Doch Andreas Lehmann verwendet all diese Begriffe in seinem zweiten Roman »Schwarz auf Weiß«. Weiterlesen

Leute wie Heinz-Georg Bederitzky

Für seinen Roman „Arbeit“ hat Thorsten Nagelschmidt Dutzende von Interviews geführt. Ein tolles Buch!

Die tägliche Arbeit am Band von VW, die eines Programmierers in einem IT-Unternehmen oder der Alltag hinter der Theke einer Bäckerei – das können sich Schriftsteller offenkundig nur schwer als Romanstoff vorstellen. Dass sich aus der vermeintlich langweiligen Welt der Lohnarbeit durchaus – und zwar hervorragende – Werke stricken lassen, hat zuletzt der Niederländer J.J. Voskuil mit seinem siebenbändigen Werk Das Büro gezeigt, in dem er den Arbeitsalltag in einem Volkskunde-Institut schildert. Weiterlesen

Sekt hat das Sagen

Jörg Fausers Kolumnen für das Berliner Stadtmagazin «Tip» sind politisch nicht leicht einzuordnen

War Jörg Fauser ein Rechter, ein Vordenker der AfD? Er gilt doch gemeinhin als Rebell des Literaturbetriebs, als Kneipenliterat mit sympathisierendem Blick auf die Underdogs oder als Vorläufer der Pop-Literatur. Aber nicht als Rechter.

Und doch wird genau diese Frage im Nachwort des Bandes «Caliban Berlin. Kolumnen 1980 – 84» aufgeworfen. Der Band ist Teil der Fauser-Werkausgabe, die der Diogenes-Verlag neu herausgibt. Er versammelt die Kolumnen, die Fauser unter dem Pseudonym «Caliban» für das Berliner Stadtmagazin «Tip» verfasste. Im Nachwort fragt der Fauser-Biograf Ambros Waibel: «Wäre Fauser heute vielleicht eine Art Matthias Matussek?» Weiterlesen

Mit Löffel Kaffee schlürfen

Halb Arbeiter, halb Händler: Annie Ernaux schreibt über ihren Vater

Mitunter verirren sich auch gute Bücher auf die Bestsellerlisten von »Focus«, »Stern« und »Spiegel«. Ein Beispiel ist »Rückkehr nach Reims« des französischen Soziologen Didier Eribon. Diese 2016 erschienene Mischung aus Autobiografie und soziologischer Erklärung, warum linke Arbeiter sich der Rechten zugewandt haben, wurde von der Linken intensiv diskutiert. Weiterlesen

Hollande und Macron töteten seinen Vater

Édouard Louis ruft in seinem neuen Buch die strukturelle Gewalt der Klassengesellschaft in Erinnerung

Es sind Sätze, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: »Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt«, »Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen« und »Hollande und El Khomri haben dir die Luft genommen«. Und selbstverständlich bekommt auch der aktuelle französische Präsident sein Fett weg: »Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller.« Weiterlesen

Aus dem Tritt geraten

Andreas Lehmann: Über Tage. Roman. Karl-Rauch-Verlag, Düsseldorf 2018. 174 Seiten, 20 EUR.

Joscha Farnbach, Angestellter in einer Druckerei, weiß auf die Frage seiner Kollegin, was er am Wochenende mache, nur zu antworten: »Ausruhen, denke ich.« Symptomatisch für das »wie immer« dahinfließende Leben zwischen Lieferscheinen, Kantinenessen und dem freudlosen Zusammensein mit seiner Freundin. Aus dem Tritt gerät sein Leben, als Farnbach von seinem Chef aufgefordert wird, nach Augsburg zu reisen, um einen unzuverlässigen Lieferanten persönlich zur Räson zu bringen. Weiterlesen

Intensives Atmen vermeiden

Gerhard Henschels achter Martin-Schlosser-Roman ist erschienen

In meinem Briefkasten gammelte nur Reklame für Grillfleisch, Planschbecken und elektrische Zahnbürsten herum.« Martin Schlosser, Gerhard Henschels Alter Ego, hatte jedoch auf den einen oder anderen Honorarscheck gehofft. »Erfolgsroman«, der Titel von Henschels neuem autobiografischem Roman, wirkt zunächst irritierend. Weiterlesen

Pornostars, Punks & Postboten

Virginie Despentes: »Das Leben des Vernon Subutex 2«

Die eine kann damit leben, der andere verfault innerlich am Groll über seine Mittelmäßigkeit: Auch im zweiten Teil von Virginie Despentes’ viel gelobter Trilogie »Das Leben des Vernon Subutex« leiden die Protagonisten am verpfuschten Leben. Aber im Gegensatz zum ersten Teil gönnt ihnen die ehemalige Punkerin und Pornofilmkritikerin, die heutige Feministin sowie Schriftstellerin hier eine Auszeit. Weiterlesen

Aus dem Lot geraten

Peter Stamm erzählt eine doppelte Doppelgängergeschichte

Stellen Sie sich vor, Sie würden an einem Ort, an dem Sie vor Jahrzehnten gelebt haben, eine Person treffen, die haargenau Ihrem früheren Ich gleicht. Das würde Sie vermutlich nicht nur irritieren, es könnte auch Ihr seelisches Gleichgewicht ins Wanken bringen. Vor allem, wenn Sie Ihrem früheren Ich immer wieder an den Ihnen bekannten Orten begegnen. Weiterlesen