Édouard Louis ruft in seinem neuen Buch die strukturelle Gewalt der Klassengesellschaft in Erinnerung
Es sind Sätze, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: »Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt«, »Nicolas Sarkozy und Martin Hirsch haben dir das Rückgrat gebrochen« und »Hollande und El Khomri haben dir die Luft genommen«. Und selbstverständlich bekommt auch der aktuelle französische Präsident sein Fett weg: »Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller.«
Édouard Louis‘ neues Buch »Wer hat meinen Vater umgebracht« nennt Ross und Reiter; es ist das literarische Antlitz der Gelbwesten-Proteste. Die genannten französischen Politiker seien für die Zerstörung des Körpers seines Vaters verantwortlich, so Louis. Präsident Chirac und sein Gesundheitsminister Bertrand streichen 2006 die Erstattung für Medikamente gegen Verdauungsstörungen, was gravierende Folgen für den Vater Louis‘ hat. Durch einen Arbeitsunfall an das Bett gefesselt, ist er auf diese Medikamente angewiesen. Nun muss er sie von dem ohnehin zu knappen Geld selbst bezahlen.
In der Regierungszeit von Sarkozy wird die Sozialhilfe durch das RSA (»Einkommen für aktive Solidarität«) ersetzt. Ähnlich wie beim deutschen Hartz IV werden Menschen gedrängt, auch unzumutbare Arbeiten aufzunehmen. Als Straßenfeger muss sich der Vater für 700 Euro im Monat krumm machen – trotz seiner ruinierten Wirbelsäule.
Hollande und seine Arbeitsministerin El Khomri lassen 2016 eine Novelle des Arbeitsrechts verabschieden. Nun kann der Vater gezwungen werden, jede Woche noch ein paar Überstunden abzuleisten. Schließlich kürzt Macron die Wohnungsbeihilfe um fünf Euro. Begründung der Regierung: Fünf Euro seien doch unerheblich. »Sie haben keine Ahnung«, kommentiert Louis. Der 26-jährige französische Autor räumt sein Motiv für das neue Buch freimütig ein: »Ich möchte ihre Namen in die Geschichte einschreiben, das ist meine Rache.«
Der knappe Text, ein innerer Monolog mit dem Vater, beginnt mit einem Zitat der amerikanischen Intellektuellen Ruth Gilmore. Befragt, wofür in ihren Augen der Begriff »Rassismus« stehe, antwortet sie, er bedeute für bestimmte Teile der Bevölkerung das Risiko eines verfrühten Todes. Diese Definition gelte ebenso für männliche Vorherrschaft, für Homophobie, Transphobie, Herrschaft einer Klasse über eine andere, für alle Phänomene sozialer oder politischer Unterdrückung, ergänzt Louis. Dann redet er seinen Vater direkt an: »Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat.«
Auf nicht einmal 80 Seiten beschreibt der gefeierte Jungautor und politische Intellektuelle (häufig mischt er sich zusammen mit Didier Eribon und Geoffrey de Lagasneire in die politische Debatte ein) diesen Prozess. Doch Louis Buch besticht nicht in erster Linie durch die Beschreibung der Zurichtung der Körper der Unterklassen durch die Politik des neoliberalen Kapitalismus. Der literarische Wert des Textes resultiert auch aus der Beschreibung des Verhältnisses zum Vater. Dies ist, harmlos ausgedrückt, kompliziert. Der Vater wird geliebt, aber anderen gegenüber behauptet Louis, ihn zu hassen. Als Kind wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass der Vater verschwände.
Wer Louis‘ bedrückenden Debütroman »Das Ende von Eddy« über die Emanzipation eines schwulen Jungen aus einer in bitterer Armut lebenden homophoben und rassistischen nordfranzösischen Familie kennt, wird sich an dessen ersten Satz erinnern: »An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung.« Die unglückliche Kindheit – sie wird auch in diesem Buch beschrieben. Der grausame Vater verschenkt das Lieblingsspiel des kleinen Édouard und sagt in der Dorfkneipe vor allen Leuten und in Anwesenheit Eddys, er hätte lieber einen anderen Sohn. »Wochenlang wollte ich am liebsten sterben.«
Doch in »Wer hat meinen Vater umgebracht« richtet sich der Fokus weniger auf den Vater, unter dem das Kind leidet, sondern auf jenen, der selbst Opfer von Gewalt und Demütigungen war. Im Zentrum steht der Vater, dem gewissermaßen durch die Klassenverhältnisse seine guten Seiten ausgetrieben wurden. Denn es gab auch den anderen, den guten Vater. Dieser hat getanzt, Frauenkleider getragen und sah dabei glücklich aus. Der andere Vater hat fünf Jahre versucht, jung zu sein, herumzureisen und Abenteuer zu erleben. Von diesem » Zipfel der Jugend« freilich erfährt Louis nur von seiner Mutter. Als ob es dem Vater unter der Last von Fabrikarbeit, Arbeitsunfall, Schmerzen und Langeweile unmöglich ist, selbst von den schönen Zeiten zu erzählen. Der gute Vater hat seinen Sohn bei der Polizei in Schutz genommen, als dieser des Diebstahls bezichtigt wurde, und mit ihm im Auto gesungen.
Interessant ist, wie Louis den Grund für die soziale Lage seines Vaters teils dessen Männlichkeitsbild zuschreibt. Schnell die Schule verlassen, arbeiten gehen, sein eigenes Geld verdienen, um für sich selbst sorgen zu können – danach handelte dieser.
Édouard Louis hat mit seinem jüngstem Buch, in Frankreich bereits im letzten Frühjahr erschienen, den literarischen Text zur Wut der Gelbwesten geschrieben. An ihren Demonstrationen hat er sich selbst beteiligt. Am Schluss des Buches nimmt er diese sozusagen vorweg. Als ihn der Vater zum Abschied seines Besuches fragt, ob er immer noch Politik mache, antwortet er: »Ja, jetzt mehr denn je.« Und der Vater antwortet: »Recht so. Ich glaube, was es bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution.«
Am Ende sprechen sich Vater und Sohn aus. Louis stellt fest, dass aus dem homophoben und rassistischen Mann ein anderer geworden ist. Er liest die Bücher seines Sohnes, ist stolz auf dessen Erfolg und spricht sich gegen den Rassismus aus. Diese Wandlung des Vaters mag man für etwas unvermittelt halten, mitunter das Plakative bemängeln. Aber zweifelsohne hat Louis mit »Wer hat meinen Vater umgebracht« ein politisch wichtiges und berührendes Buch geschrieben.
Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 77 Seiten, 16 EUR.
aus: analyse & kritik 646, 19.2.2019