Kann man nicht auswaschen

Der Geruch der Gastro-Unterschicht: Ilija Matuskos Debüt »Verdunstung in der Randzone«

Zum Wort »Stallgeruch« schreibt Wikipedia: Im übertragenen Sinne werde damit »das soziale Milieu eines Individuums« bezeichnet, »also seine Herkunft oder langfristige Zugehörigkeit zu einer Gruppe«. Der Autor Ilija Matusko muss, wenn er das Wort »Stall« liest, immer an Fett denken. Fett und der Geruch von Pommes sind das Leitmotiv seines Debüts »Verdunstung in der Randzone«. Weiterlesen

In der Welt herumstolpern

Andreas Lehmanns Kurzgeschichtensammlung »Lebenszeichen« gibt Einblicke in den Arbeitsalltag

Andreas Lehmann hat bisher zwei Romane veröffentlicht. Nach »Über Tage« und »Schwarz auf Weiß« folgt nun eine Sammlung von 21 Kurzgeschichten. Die Textgattung mag sich geändert haben, nicht aber der Inhalt oder die Auswahl der Protagonisten. Der 1977 geborene und in Leipzig lebende Autor hat eine Vorliebe für Antihelden, triste Angestelltenschicksale, die seit 15 Jahren dieselbe Plastikbox für die Frühstückspause mit zur Arbeit nehmen und dünnen Kaffee aus Thermoskannen trinken. Die sich mit Kundenakquise für Lkw-Planen, Industrieverpackungen, Abonnentenlisten oder Snackautomaten beschäftigen müssen. Und deren Alltag kaum Momente der Freude kennt. Weiterlesen

Das Browserfenster zur Welt

Es geht um Solidarität: Berit Glanz’ neuer Roman »Automaton« gibt Einblicke in das digitale wie analoge Prekariat

Sie machen die Drecksarbeit für Facebook, Google und Co: Zehntausende sogenannte Content-Moderatoren schauen Abertausende von Bildern an, die User täglich auf den Social-Media-Plattformen hochladen. Ihr Auftrag: Bilder, Tondokumente und Videos zu prüfen, ob diese wegen Gewalt- oder pornografischer Darstellungen entfernt werden müssen. Es ist ein psychisch extrem belastender Job; der Dokumentarfilm »The Cleaners« (deutscher Titel: »Im Schatten der Netzwelt«, 2018) über Content-Moderatoren auf den Philippinen hat dieses bis dato weithin unbekannte Phänomen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Weiterlesen

Das Leben als Schulterzucken

Édouard Louis’ Buch über seine Mutter handelt von patriarchaler Zerstörung – und von Befreiung

Das Vorgängerbuch über den Vater war eine von Rachegefühlen getriebene Anklage. Es schlug förmlich mit Sätzen wie »Jacques Chirac und Xavier Bertrand machten deinen Darm kaputt« oder »Emmanuel Macron stiehlt dir das Essen direkt vom Teller« um sich. In Édouard Louis´ Pendant zur Mutter fehlt diese plakative Wut weitgehend, sie ist einem einfühlsamen, behutsamen Ton gewichen. Das heißt nicht, dass die Gesellschaftskritik aus Louis’ Text verschwunden ist. Die von der Klassengesellschaft und von männlicher Herrschaft ausgehende Gewalt ist fast auf jeder Seite von »Die Freiheit einer Frau« präsent. Weiterlesen

Fronteinsätze in Meppen

Landkommune, »Titanic«-Redaktion und »Konkret«-Kongress: Ein »Schauerroman« von Gerhard Henschel

Auch das »Neue Deutschland« bekommt in Gerhard Henschels neuntem Teil seiner autobiografisch grundierten Martin-Schlosser-Romanreihe sein Fett weg. Anfang der 90er Jahre sorgte ein Satz in einem verabredeten Buchmesse-Bericht von Henschels Alter Ego Martin Schlosser für Anstoß in der ND-Chefredaktion: »Ca. sechzehn neue Bücher über Streitkultur und Schmusekunst gibt es von Friedrich Schorlemmer, dessen Fans abends die Säle füllen, weil er so lieb ist, wenn auch nicht besonders helle.« Was von Schlosser mit den Worten kommentiert wird: »So viel Meinungsfreiheit mochten sie mir nicht zugestehen, die Hansel, weil sie Angst davor hatten, ihre Leser vor den Kopf zu stoßen.« Aber da ist er als aufstrebender Schriftsteller schon nicht mehr auf Veröffentlichungen im ND angewiesen. Weiterlesen

Die Sackgasse der Globalisierung

Um den Kapitalismus einzuhegen, plädiert der linke Soziologe Wolfgang Streeck in seinem neuen Buch »Zwischen Globalismus und Demokratie« für eine Rückkehr zum Nationalstaat – und landet so bei der Neuen Rechten unterm Weihnachtsbaum

Wolfgang Streeck, der langjährige Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, freute sich 1999 im Magazin »Der Spiegel« über den Rücktritt des damaligen SPD-Finanzministers Oskar Lafontaine. Durch diesen seien Teile der Bundesregierung und der SPD von ihrem »Vulgär-Keynesianismus« abgebracht worden. Nach Lafontaines Rückzug – die Börsen feierten – wurde der Weg frei für die Durchsetzung des Neoliberalismus auch in der Sozialdemokratie. An der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen hat die SPD immer noch zu knabbern. Als intellektueller Wegbereiter dafür gilt eben jener Streeck. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bezeichnete ihn als »soziologischen spin doctor« der Agenda 2010. Kostprobe seiner damaligen Ideen gefällig? Streeck sprach von der »Anerkennung wirtschaftlichen Zwanges als charakterbildende Kraft«. Weiterlesen

Ein Vokal in seinen Stimmbändern

Wie ticken die Anhänger von Sebastian Kurz? Elias Hirschl hat über sie einen satirischen Roman geschrieben

Es fällt schwer, von einem Protagonisten im strengen Sinne in Elias Hirschls neuem Roman zu sprechen. Nicht weil die Hauptfigur keinen Namen trägt, sondern weil der Namenlose lediglich das Imitat eines Individuums ist oder, wie seine Freundin es ihm an den Kopf schleudert, »eine leere Hülle ohne Emotionen«. Soll das vielleicht der am Samstag zurückgetretene österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sein? Weiterlesen

Ach so achtsam in den Burn-out

Fall für die innere Kündigung: Clemens Bruno Gatzmagas Debüt »Jacob träumt nicht mehr« taucht tief ins moderne, neoliberale Agenturleben

Er verflucht die Banker, die Anzugträger, die Marketingmenschen – und vor allem sich selbst. Jacob, Ende 20, arbeitet in einer Agentur, die Unternehmen bei ihren Digitalstrategien unterstützt. Und das ziemlich erfolgreich. Ein paar Jahre noch und ihm ist eine Stelle im Management sicher. Doch dann läuft alles aus dem Ruder. Weiterlesen

Plädoyer für radikale Steuerung des Marktes

Der Ökonom Heiner Flassbeck kritisiert in seinem neuen Buch die herrschende Klimapolitik

Heiner Flassbeck ist ein streitbarer Ökonom. Voller Selbstvertrauen argumentierte und polemisierte der am Keynesianismus orientierte Ökonom in den letzten Jahren gegen die neoliberale, austeritätsversessene deutsche Wirtschaftspolitik. Obwohl er inhaltlich oft ins Schwarze trifft, kann Flassbecks mitunter oberlehrerhafter Ton etwas abschrecken. Dieser findet sich auch in seinem jüngsten Buch, das sich einem Thema widmet, das für den Autoren überraschend anmutet: der Ökologie. Schließlich ist der Außenhandelsexperte und frühere Chefvolkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung nicht als Umweltökonom bekannt. Weiterlesen

Das Epizentrum touristischer Dystopien

Lois Hechenblaikners Bildband über den Tiroler Party-Skiort Ischgl

Wer grenzenlose Enthemmung im Winterurlaub suchte, für den war Ischgl in Tirol eine der Top-Adressen. Und dann kam Corona … Eine wunderbare Alpenlandschaft, die besten Pisten und modernsten Skilifte – alles ganz nett und eine notwendige Voraussetzung, aber keineswegs ausreichend für hormonelle und alkoholbedingte Exzesse. Dazu braucht es das gewisse Etwas, sprich: Etablissements wie »Kuhstall«, »Kitzloch« oder »Schatzi Bar«, in denen der Alkohol in Strömen fließt. Weiterlesen