Landkommune, »Titanic«-Redaktion und »Konkret«-Kongress: Ein »Schauerroman« von Gerhard Henschel
Auch das »Neue Deutschland« bekommt in Gerhard Henschels neuntem Teil seiner autobiografisch grundierten Martin-Schlosser-Romanreihe sein Fett weg. Anfang der 90er Jahre sorgte ein Satz in einem verabredeten Buchmesse-Bericht von Henschels Alter Ego Martin Schlosser für Anstoß in der ND-Chefredaktion: »Ca. sechzehn neue Bücher über Streitkultur und Schmusekunst gibt es von Friedrich Schorlemmer, dessen Fans abends die Säle füllen, weil er so lieb ist, wenn auch nicht besonders helle.« Was von Schlosser mit den Worten kommentiert wird: »So viel Meinungsfreiheit mochten sie mir nicht zugestehen, die Hansel, weil sie Angst davor hatten, ihre Leser vor den Kopf zu stoßen.« Aber da ist er als aufstrebender Schriftsteller schon nicht mehr auf Veröffentlichungen im ND angewiesen.
»Schauerroman« heißt Henschels neuester Schlosser-Band. Er fährt da fort, wo der vorherige mit dem programmatischen Titel »Erfolgsroman« aufhörte: Schlosser muss seine schriftstellerischen Ambitionen nicht mehr mit Hilfsjobs finanzieren, die Honorare für Zeitschriftenbeiträge und Bücher reichen einigermaßen aus. Anerkennung wird ihm in Form einer Einladung zur Mitarbeit an einem Buch seines Vorbilds Eckhard Henscheid zuteil, und dann zieht er mit Wiglaf Droste, Max Goldt und den Redakteuren der Satirezeitschrift »Titanic« um die Häuser. Mitunter geben sich bei ihm die Geliebten die Klinke in die Hand.
Gerhard Henschel hat sich vom achten bis zum neunten Band seiner monumentalen Martin-Schlosser-Chronologie zwar ungewöhnlich viel Zeit gelassen. Dazwischengeschoben hat er die beiden Lokalkrimis »Soko Heidefieber« und »Soko Fußballfieber«. Aber die leichte Sorge, dass ihn die Lust auf die Schlosser-Bände verlassen haben könnte, erweist sich nach der Lektüre des »Schauerromans« als gegenstandslos. Der ist so gut wie gewohnt.
Titelgebendes Ereignis ist das Siechtum des alkoholkranken Vaters in Meppen. Seit dem Tod der Mutter hatte er dort »unglücklich, verbittert, vereinsamt und lebensmüde« gehaust. Sein Sohn fährt alle paar Wochen zu ihm, um einzukaufen, aufzuräumen und nach dem Rechten zu sehen. »Fronteinsätze in Meppen« nennt er das. Und die sehen so aus: Jeden Morgen dicke Luft, jeden Mittag Gemaule über das Essen, jeden Abend Geschimpfe über die Familienmitglieder, jede zweite Nacht Notdienst, wenn der Vater betrunken die Treppe hinunterstürzt, und eimerweise Blut ins Klo kippen, weil der Vater ständig Nasenbluten hat.
Es wirkt fast wie eine Erlösung, als der Vater an multiplem Organversagen stirbt. Die Familie kommt zusammen, regelt die Beerdigung, erzählt sich Anekdoten über den Vater – kaum ein gutes Wort fällt – und entrümpelt das gemeinsame Elternhaus. Hier entdeckt Martin übrigens den Briefwechsel seiner Eltern – die Keimzelle dessen, was später einmal der Briefroman »Die Liebenden« werden wird, gewissermaßen der Prolog für die Schlosser-Romane Henschels.
Als weitere hervorhebenswerte Begebenheiten im jüngsten Teil des Romanprojekts sind zu nennen: Martin Schlosser verbringt wunderschöne Sommertage in einer Kommune, wo freie Liebe praktiziert wird und er sich einen Kanon singend an der Hand der ehemaligen »Hure der Nation« Domenica wiederfindet. Er zieht nach Frankfurt am Main, weil er »Titanic«-Redakteur wird, und stellt dort seine Ex-Freundin Andrea als Putzfrau an. Er verliert seine Geliebte Lydia an Indien, von wo sie mit neuem Namen (Parjato – Wohlriechende Blume) vorübergehend zurückkehrt. Er arbeitet an dem Buch »Das Blöken der Lämmer« über die Linke und den Kitsch, worin der eingangs genannte Schorlemmer prominent vorkommt. Er entdeckt seine 1978 in Meppen erloschene Liebe zum Fußball neu, für die Eintracht aus Frankfurt schlägt nun sein Herz.
Und Schlosser fügt seinen Teil zu den heute so genannten Baseballschlägerjahren hinzu, die Zeit der Pogrome von Neonazis im Ostdeutschland der 90er Jahre. Vom legendären Kongress der Zeitschrift »Konkret« 1993 kommt er mit sagenhaften Anekdoten zurück. So soll Karl Held (Redaktion »Gegenstandpunkt«) in seiner besten Zeit als Kampfredner der Marxistischen Gruppe dreistündige Vorträge gehalten und dabei eine ganze Kiste Bier leer gesoffen haben. Schließlich erfährt der Leser, dass Walter Kempowski am Kaffeetisch mit Besuchern die Angewohnheit hatte, Fliegen mit der Klatsche zu erschlagen.
Fazit: Alte Leser sollten unbedingt zugreifen. Und jenen, die es werden wollen, sei gesagt: Mit dem »Schauerroman« macht man zum Einstieg nichts falsch. Denn die »lustigste aller BRD-Chroniken« (FAZ) lässt sich chronologisch auch rückwärts hervorragend lesen.
Gerhard Henschel: Schauerroman. Hoffmann und Campe, 592 S., geb., 26 €.
aus: nd, 17.02.2022