Kann man nicht auswaschen

Der Geruch der Gastro-Unterschicht: Ilija Matuskos Debüt »Verdunstung in der Randzone«

Zum Wort »Stallgeruch« schreibt Wikipedia: Im übertragenen Sinne werde damit »das soziale Milieu eines Individuums« bezeichnet, »also seine Herkunft oder langfristige Zugehörigkeit zu einer Gruppe«. Der Autor Ilija Matusko muss, wenn er das Wort »Stall« liest, immer an Fett denken. Fett und der Geruch von Pommes sind das Leitmotiv seines Debüts »Verdunstung in der Randzone«.

Matusko wurde 1980 als Sohn eines kroatischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, die zusammen mehrere Gaststätten in Bayern führten. »Kein Ruhetag« und »Durchgehend geöffnet« steht auf zwei Schildern vor einem dieser Lokale. Der junge Ilija und seine ältere Schwester gehen den Eltern nach der Schule zur Hand, als die Arbeit für sie noch ein Spiel ist. Mal läuft die Wirtschaft gut, mal nicht. Dann suchen die Eltern nach einer neuen Gastwirtschaft, campieren auf der Suche sogar mit ihren Kindern im Auto.

Die Lokale mögen wechseln, was immer da ist, ist der Geruch von Pommes, von Frittiertem. Er setzt sich fest in der Kleidung des gleichnamigen Protagonisten, er lässt sich nicht auswaschen. »Es riecht nach Pommes, Ilija kommt!«, ruft ein Mitschüler. »Das Fett, ein unbestreitbarer Teil meiner Biografie, plagt mich und widersetzt sich allen Versuchen, es aus meinem Leben herauszulösen«, schreibt Matusko. Bis heute prägt ihn die Angst, dass er nach etwas riecht, das den anderen unangenehm sein könnte. Er schnuppert morgens an jedem Kleidungsstück. Denn der Geruch könnte ja seine wahre Herkunft verraten.

Matuskos Buch reiht sich ein in die sogenannte autofiktionale Literatur von Autoren wie Didier Eribon, Annie Ernaux, Christian Baron, Deniz Ohde oder Daniela Dröscher. Allesamt Autor*innen aus der Arbeiter- oder Unterschicht, die den »sozialen Aufstieg« geschafft haben, die die Ersten in ihrer Familie waren, die studiert haben, und das zum Thema ihrer Texte machen.

Von der Schreibweise Ernaux’ ist Matusko, der in Berlin unter anderem für die »Taz« arbeitet, stark geprägt. Sein Text besteht aus manchmal nur wenigen Zeilen langen, fragmentierten Erinnerungen, die in Kapiteln zu Themen wie Fett, Arbeit, Kunst oder Tennis – durch seine Tennisfreunde fand er den Weg zum Gymnasium – angeordnet sind. Wie bei Ernaux spielen auch Selbstreflexionen während des Schreibens oder das Betrachten von Fotografien eine Rolle.

Bei Matusko kommt hinzu, dass er die Rezeption des Buchmanuskriptes durch Familienangehörige oder den Literaturbetrieb zum Gegenstand macht. Und stärker als andere arbeitet er mit Zitaten von Autoren wie Pierre Bourdieu und anderen Sozialwissenschaftlern. Hier zeigt sich, dass Matusko Soziologie und Politikwissenschaften studiert hat. Sein »Quellen-Katalog«, zu dem auch Wikipedia-Einträge, Amazon-Bewertungen oder Youtube-Videos gehören, zählt über zehn Seiten.

Die Frage, ob es sich bei »Verdunstung in der Randzone« um einen Roman oder ein Sachbuch handelt, ist müßig. Wichtiger ist zu fragen, ob es ein gutes Buch ist. Und das ist es! Zwar hat man mitunter den Eindruck, Matusko habe sich vielleicht etwas zu stark von den erwähnten Autor*innen beeinflussen lassen, doch er versteht es, neue Akzente zu setzen. Der Zugang über den Geruch ist ein solcher. Die manchmal fast quälenden Reflexionen über das eigene Schreiben ein anderer.

So weiß er, dass die Distanz zwischen ihm und seinen Eltern mit den Texten, die er über sie schreibt, noch größer wird. Oder dass er seinen bildungsbürgerlichen Leser*innen mit seinem Text etwas an die Hand gibt, mit dem sie die soziale Ungleichheit rhetorisch beherrschen können. Und ihm ist bewusst, dass sein Buch nichts verändern wird, da es in eine Zeit der Aufmerksamkeit für das Thema fällt. »Vielleicht werden wir – die Arbeiter-, Gastro- und Unterschichtskinder – einmal durch den Literaturbetrieb gescheucht. Dann sind die nächsten dran.«

Könnte sein. Aber bis es so weit ist, sollten wir Bücher von Matusko und anderen lesen. Denn obwohl seine Befürchtungen nicht von der Hand zu weisen sind, bilden die Bücher, wie er oder die oben Genannten sie schreiben, ein Gegengewicht zu den Romanen, in denen die soziale Frage oder Herkunft keine Rolle zu spielen scheint oder die im Milieu der gut situierten Mittel- und Oberschicht spielen. Oder versucht der Rezensent mit dieser Empfehlung ebenfalls die soziale Ungleichheit rhetorisch zu beherrschen? Es sind auch diese Widersprüche, die Matuskos Buch so lesenswert machen.

aus: nd, 19.10.2023

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