Andreas Lehmanns Kurzgeschichtensammlung »Lebenszeichen« gibt Einblicke in den Arbeitsalltag
Andreas Lehmann hat bisher zwei Romane veröffentlicht. Nach »Über Tage« und »Schwarz auf Weiß« folgt nun eine Sammlung von 21 Kurzgeschichten. Die Textgattung mag sich geändert haben, nicht aber der Inhalt oder die Auswahl der Protagonisten. Der 1977 geborene und in Leipzig lebende Autor hat eine Vorliebe für Antihelden, triste Angestelltenschicksale, die seit 15 Jahren dieselbe Plastikbox für die Frühstückspause mit zur Arbeit nehmen und dünnen Kaffee aus Thermoskannen trinken. Die sich mit Kundenakquise für Lkw-Planen, Industrieverpackungen, Abonnentenlisten oder Snackautomaten beschäftigen müssen. Und deren Alltag kaum Momente der Freude kennt.
So auch in den nunmehrigen Kurzgeschichten. Ein Beispiel dafür ist die Hauptfigur »Im Keller«, die unter dem unerträglichen Motivationsgeschwafel des Chefs leidet, der sich gern von den Kollegen applaudieren lässt, aber offenbar auch immer mal eine Auszeit vom Arbeitsstress nehmen muss, etwa in seinem eigenen kleinen Alkohollager im Keller – und eben dort zufällig vom Protagonisten dieser Kurzgeschichte erwischt wird.
Die meisten der Short Stories in »Lebenszeichen« haben überraschende Wendungen wie diese. So auch »Nichts als ein Name«, die erste Erzählung im Buch, die übrigens nicht wie die meisten anderen in der Arbeitswelt angesiedelt ist. Die Hauptfigur ist in ihr Heimatdorf gekommen, um ihre schwerkranke Mutter zu besuchen. Ein anstrengender Besuch. Das Haus ihrer Mutter nimmt sie als klein, eng und baufällig wahr. »Der verwitternde Startblock, aus dem sie vor langer Zeit in die Welt gestolpert war.« Um sich von dem belastenden Heimatbesuch zu erholen, geht sie auf den örtlichen Friedhof – und entdeckt dort ihren eigenen Namen auf einen Grabstein.
Das Durchs-Leben-Stolpern, das Gefühl, nicht zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, sich in einem Leben verstrickt zu haben, das man eigentlich nicht führen will, und die damit verbundene Sehnsucht nach einem Ausbruch, einem Neuanfang, sind Motive, die sich durch Lehmanns Kurzgeschichten ziehen. Manchmal steht auch die große Aufgabe im Mittelpunkt, wie in der Geschichte »Ladehemmung«. Darin findet ein arbeitsloser Mieter, der sein karges Einkommen mit Hausmeisterdiensten für seine Vermieterin aufbessert, einen Selbstmörder und die Tatwaffe, eine Pistole. Doch anstatt sofort die Polizei zu rufen, hält er sich die Waffe an die Schläfe – doch sie klemmt.
Lehmann gelingt es, die kleinen und großen Dramen aus dem (Arbeits-)Alltag in einer klaren und nüchternen Sprache zu schildern, die zugleich rätselhaft und atmosphärisch ist. Kein Wunder, dass er im vergangenen Jahr mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet wurde.
Andreas Lehmann: Lebenszeichen. Karl-Rauch-Verlag, 208 S., geb., 25 €.
aus: nd, 9.08.2023