1946 wurde der SDS gegründet. Zunächst war er ein braver SPD-Verband.
Als der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) 1946 in der Trümmerlandschaft Hamburgs gegründet wurde, trugen die überwiegend männlichen Beteiligten abgeschabte Offiziersledermäntel oder umgefärbte Uniformen und sorgten sich nicht unwesentlich um die grundlegenden materiellen Dinge des Lebens: Nahrung und Unterkünfte. 20 Jahre später hatten die immer noch meist männlichen Akteure die Offiziersmäntel schon längst und die Anzüge noch nicht so lange abgelegt und diskutierten in Berlin, Frankfurt und Marburg über die Integrationsfähigkeit der spätkapitalistischen Gesellschaft. Materiell fehlte es den Mittzwanzigern im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik an nichts.
Formal handelte es sich um denselben Verband, der heute in erster Linie mit der 68er-Revolte, der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und mit Rudi Dutschke assoziiert wird. Doch es war ein langer Weg vom »parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken«. Zwischen dem SDS der Nachkriegszeit und dem der 60er Jahre liegen mehrere Unvereinbarkeitsbeschlüsse, der Beginn des Kalten Krieges, die Gründung der Bundesrepublik, Westintegration und Wiederbewaffnung, der endgültige Abschied der SPD vom Marxismus sowie die Bildung der Großen Koalition 1966. Mit einem Wort: Die grundlegend andere politische Konstellation zog eine Wandlung des SDS von einer Vorfeldorganisation der deutschen Sozialdemokratie zu einer unabhängigen linkssozialistischen Vereinigung nach sich.
Hamburg im September 1946: 90 Delegierte finden sich unter den Porträts von Immanuel Kant und Karl Marx zur »Zonentagung sozialistischer Studenten« in der Elbschloßbrauerei ein. Das Ziel: die Gründung eines sozialistischen Studentenbundes. Zum Teil sind die Studierendengruppen aus 20 Städten noch nicht von den Besatzungstruppen lizenziert. Ein Bekenntnis zur SPD wird vorerst nicht in die Satzung aufgenommen, obwohl die Vorbereitung des Kongresses in Abstimmung mit dem SPD-Vorstand erfolgte. Die Diskussion über das »ideologische Programm« ist kontrovers: Es gibt Bekenntnisse zum religiösen Sozialismus, zur revolutionären Tat und zum orthodoxen Marxismus. Andere wünschen eine Abkehr vom Revisionismus. Schließlich legt man sich vage auf einen freiheitlichen Sozialismus fest. Dem SDS gehören zunächst auch Kommunisten an – bis zum August 1947, als sie durch den ersten Unvereinbarkeitsbeschluss aus dem Verband gedrängt werden. Der Wortlaut dieses Beschlusses stammt übrigens von Helmut Schmidt, dem SDS-Vorsitzenden 1947/48 und späteren Bundeskanzler. In diesem wird ferner das Verhältnis zur SPD wie folgt umrissen: »Der SDS ist keine Organisation irgendeiner politischen Partei. Wir sind aber der Meinung, daß sich derzeit keine Partei außer der SPD zu dem von uns vertretenen freiheitlichen demokratischen Sozialismus bekennt.«
Die Nähe zur SPD sollte sich in den 1950er Jahren festigen. Insbesondere das Führungsduo Ulrich Lohmar und Claus Arndt verstand den SDS als Sprungbrett für eine SPD-Karriere. Inhaltlich richteten sie den bis zur APO konstant rund 1000 Mitglieder zählenden SDS stark auf die Partei aus. Befürwortet wurden sogar die Westintegration der BRD, die Wiederbewaffnung sowie die Nichtanerkennung der DDR. Wenn man ohne Kenntnis der Autorschaft Zitate aus Reden oder Texten aus dem SDS-Organ »Unser Standpunkt« liest, könnte man deren Urheber für Kalte Krieger aus der Union halten – zumindest wenn es um die »Zone« geht. Kostprobe: »In jedem Haus aber sitzt heimlich mit die Angst unter dem Lichterbaum, die Angst vor einer ungewissen Zukunft unter einem System, dessen Grausamkeit sich in ständig steigendem Terror täglich neu erweist.«
Doch schon bald sollte der SDS eine freundlichere Einstellung zur DDR entwickeln, was sich auch im Umgang mit den ab 1956 illegalisierten KPD-Mitgliedern ausdrückte. Manche Gruppen gewährten diesen ein Gastrecht. Gewissermaßen nahm der Verband damit den »Wandel durch Annäherung« durch die spätere SPD unter Willy Brandt vorweg. Mitte der 1950er Jahre jedoch sorgte der Streit um die sogenannten Ost-West-Kontakte für eine Entfremdung von der SPD. Unterstützt wurde das durch das Engagement in der Anti-Atomtod-Bewegung und die Bewertung des Godesberger Programms der SPD von 1959. Der außerparlamentarische Widerstand gegen die von Kanzler Adenauer vorangetriebene Atombewaffnung wurde zunächst auch von der SPD unterstützt. Doch dann bekam sie kalte Füße, während SDS-Mitglieder weiter engagiert blieben. Trotzdem gab es einen weiteren Unvereinbarkeitsbeschluss: 1959 wurden die »Kryptokommunisten« der Gruppe um die Zeitschrift »konkret« aus dem SDS ausgeschlossen. Der Kreis, zu dem auch Ulrike Meinhof zählte, hatte sich für Verhandlungen mit der DDR und eine einseitige Abrüstung der BRD eingesetzt.
Die neue Führungsgruppe im Umfeld von Jürgen Seifert war der erste undogmatisch-marxistische Vorstand des SDS. Er setzte sich nicht nur gegen die »konkret«-Gruppe, sondern auch gegen die »Godesberger« durch. Aufgeschreckt begannen »rechte SPD-Führer« (»ND«, 20.8.1960) daraufhin mit der Ausgrenzung des SDS. Im Mai 1960 wurde der parteinahe »Sozialdemokratische Hochschulbund« (SHB) gegründet und 1961 beschlossen, dass eine Mitgliedschaft in SPD und SDS unvereinbar sei. Im Studierendenverband löste das zunächst Schockwellen aus. Viele Mitglieder gingen zum SHB, die strategische Orientierung war hinfällig, weil – wenngleich in kritischer Solidarität – im Kern auf die Sozialdemokratie hin orientiert.
Was dann ab Mitte der 1960er Jahre folgte, ist hinlänglich bekannt: Der SDS entwickelte sich mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Hans-Jürgen Krahl zu einem Zentrum des unabhängigen marxistischen Denkens. Als 1966 die Große Koalition gebildet wurde, gab es keine linke Opposition mehr im Parlament. Als Ersatz bildete sich die außerparlamentarische Opposition heraus – und ihr Nukleus war der SDS. Erstmals wurde an den Unis die rechte Hegemonie gebrochen.
Das »ND« übrigens berichtete bis zum Jahr 1956 nicht über den SDS. Im Januar dann die erste Meldung: »Wie aus Bonn weiter bekannt wird, hat das Bonner Bundesinnenministerium die Förderung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes aus Mitteln des Bundesjugendplanes eingestellt. Diese Maßnahme sei erfolgt, weil ein führendes SDS-Mitglied in einem Artikel die Wiederaufrüstung Westdeutschlands abgelehnt und die Adenauer-Politik kritisiert hätte.« Die Berichte häuften sich erst, als sich der SDS von der SPD zu lösen begann. Auch über die Auflösung im März 1970 wurde im »ND« nicht berichtet, allerdings über das Verbot der Heidelberger SDS-Gruppe im Sommer des Jahres.
aus: neues deutschland, 23.4.2016