Im sechsten Band seines Romanzyklus’ »Ortsumgehung« führt Andreas Maier sein Alter Ego an die Universität
Pusteln am ganzen Körper und aufgedunsene Gliedmaßen lassen den Protagonisten in Andreas Maiers neuestem Roman aussehen wie ein Michelinmännchen. Zudem plagen ihn Magenkrämpfe, jedes Mal, wenn er von der Frankfurter Uni zurück ins heimische Friedberg pendelt. Eine typische allergische Reaktion sei das, sagt ihm eine Ärztin. Auf die Frage, worauf er denn allergisch reagiere, bekommt jener Andreas zu hören: auf sich selbst. Er solle weniger nachdenken und nicht dauernd alles problematisieren.
Leichter gesagt als getan, denn Andreas nabelt sich gerade von seiner Familie und seinem Herkunftsmilieu ab. Die Frage nach dem »Wer bin ich eigentlich?« ist das zentrale Thema des Romans. Vorangestellt ist ihm die Sentenz »Ich, das ist der Mittelteil des Wortes Nichts«. Was wie ein Kalauer wirkt, beschreibt die seelische Verfassung von Andreas recht gut. Selbstbewusstsein, ein Ziel und eine Vorstellung von seiner Identität hat er nicht. »Ich selbst hatte mich damit eingerichtet, nur noch aus mehr oder minder unverbundenen, nebeneinander existierenden Personen zu bestehen«, heißt es an einer Stelle.
»Die Universität« ist Teil eines von Maier 2009 begonnenen Projektes namens »Ortsumgehung«. Es ist autobiografisch angelegt und ähnelt damit vergleichbaren Projekten, die sich derzeit großer Beliebtheit erfreuen. Karl Ove Knausgård hat mit »Min Kamp« das prominenteste dieser Werke vorgelegt und unlängst wurde die deutsche Übersetzung von J. J. Voskuils siebenbändigem Romanwerk »Das Büro« beendet. Diese Anzahl wird Andreas Maier – sofern er nicht »im Hamsterrad der ›Ortsumgehung‹« (Maier) ermüdet – bald übertrumpft haben. Soeben ist der sechste Teil des auf elf Bände angelegten Romanzyklus’ erschienen. Allerdings sind Maiers Bücher deutlich schmaler: »Das Zimmer« (2010), »Das Haus« (2011), »Die Straße« (2013), »Der Ort« (2015), »Der Kreis« (2016) und jetzt »Die Universität« – sie liegen alle bei 150 bis 200 Seiten.
Der unterschiedliche Umfang deutet darauf hin, dass bei Maier nicht wie bei Knausgård oder bei Peter Kurzeck das ausufernde Erinnern im Zentrum steht. Der 1967 im hessischen Bad Nauheim geborene Maier ist bei seiner Erinnerungsarbeit immer auch Analyst und Essayist, seine Prosa ist verdichteter, einen »Frankfurt-Knausgård, der sich kurzfasst« nannte ihn »Die Welt« jüngst.
Bad Nauheim und Frankfurt am Main – damit sind die zentralen Orte des Maier’schen Universums benannt. Friedberg in der hessischen Wetterau gehört noch dazu. Hier wuchs Maier auf, hier handeln die meisten der bislang erschienenen Teile der »Ortsumgehung«. Bisher hatte der Leser die Hauptfigur in sich räumlich weitenden Kreisen durch Kindheit und Jugend begleitet, stilistisch wie atmosphärisch mitunter an Thomas Bernhard erinnernd, über den Maier auch seine Dissertation geschrieben hat.
Im neuesten Roman finden wir Andreas als Philosophiestudenten in Frankfurt am Main wieder. Er ist Anfang 20, hat wenig Geld, ist abgemagert und trinkt vormittags schon Bier. Zunächst lebt er noch in Friedberg, dann in Frankfurt. Es plagt ihn ein »innerer Meta-Ebenen-Kuckuck«, der seine Handlungen kommentiert und ihn von gefassten Vorhaben abbringt. Eine Italienreise endet bereits am Frankfurter Hauptbahnhof. Statt gen Süden geht es weiter nach Butzbach, wo er seiner ersten Liebe, einer inzwischen verheirateten Buchhändlertochter, auflauern will. Doch als er sie sieht, fasst er den Entschluss: besser verschwinden, loslaufen!
Treffend versteht es Maier, mit knappen Formulierungen das Uni-Milieu atmosphärisch zu beschreiben. Im Philosophieseminar herrscht eine interne Hierarchie von profunden und spontanen Rednern und jenen, die auch mal gerne etwas sagen wollen, es aber nicht können. Da sind die schlechte Raumluft, die Ermattung am Freitagnachmittag, der überfüllte Raum. Die Philosophiestudenten werden nach einer Zeit zu Adepten eines Professors, übernehmen Sprache und Gestik desselben. »Habermasianer schlurften meistens still und nachdenklich durch die Gegend und griffen sich ans Kinn. Wenn sie sprachen, dann leise und nuschelnd und ohne Blickkontakt zum Gegenüber zu suchen.«
Über weite Teile des Romans stehen aber die Beschwernisse von Andreas im Zentrum, den wir in den vorherigen Bänden als »Problemandreas« und autistischen Sonderling kennengelernt haben. Als Sinnbild seiner Frankfurter Existenz wird ihm die Matratze, auf der er meistens herumliegt. »Seltsame Glücksmomente« stellen sich erst ein, als er einen Studentenjob als Pflegekraft bei einer Witwe im Kettenhofweg annimmt. Es ist Gretel Adorno, die Witwe des berühmten Philosophen, die »in gleichförmiger Regelmäßigkeit ihr Personal verschleiße«. Obwohl sie kratzt, schlägt und schimpft, versteht sich Andreas besser mit ihr als mit seiner Umwelt. Die längere Gretel-Adorno-Passage ist ein Höhepunkt von »Die Universität«, so wie es der Besuch des ersten Rockkonzerts im Vorgängerband war.
Wenn Andreas Maier das Niveau der bis dato erschienenen Bände seiner »Ortsumgehung« hält, können wir in einigen Jahren wohl den Abschluss einer einzigartigen Romanreihe feiern.
Andreas Maier: Die Universität. Roman. Suhrkamp, 148 S., geb., 20 €.
aus: neues deutschland, 14.3.2018