„Kapitalismus im Nasenloch“ überschreibt der marxistische Historiker Mike Davis seine Analyse, in der er sich mit dem Ausbruch der Schweinegrippe in Mexiko, den Ursachen und den unzureichenden Bekämpfungsplänen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschäftigt. Ihm zufolge könne die Schweinegrippe bald beweisen, dass die WHO-Strategie in die gleiche Kategorie des Risk-Managements gehört wie AIG-Derivate und Madoff-Wertpapiere, weil sie keine massiven Investitionen in Überwachung, Forschungs- und Aufsichtsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung und in den weltweiten Zugang zu lebensrettenden Medikamenten vorsieht.
Zeichnet sich also nach dem Zusammenbruch der Finanzmärkte ein zweites Desaster des neoliberalen Kapitalismus ab? Denn sowohl die Entstehung wie die rasche Verbreitung der Schweinegrippe im Besonderen als auch die von Krankheit im Allgemeinen hat mehr mit den weltweit kapitalistisch geprägten sozial-ökonomischen Verhältnissen zu tun, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Gesundheit ist nämlich mehr als die Abwesenheit von Krankheit.
Ob jemand krank wird, ist auch eine soziale und Klassenfrage. Außermedizinische Faktoren wie der Zugang zu Einkommen, eine ausreichende Ernährung, gute Wohnverhältnisse, Bildung und Teilhabe an Kultur entscheiden mit darüber, ob und an welcher Krankheit man erkrankt. Das zeigt sich auch im Falle der Schweinegrippe. Warum nämlich sterben bislang überwiegend Menschen in Mexiko an der neuen Grippe? Die Antwort, so der Leiter der Immunologie-Abteilung einer teuren mexikanischen Privatklink, habe mit der sozialen Ungleichheit zu tun. „Es sterben vor allem die Benachteiligten.“ Mexiko habe perfekte Bedingungen für eine Ausbreitung: Umweltverschmutzung, schlechte Ernährung, 40% Armut, Gedränge, Bürokratie, Desorganisation (Süddeutsche Zeitung vom 2./3.5.2009).
Obwohl die Experten aktuell eher dazu neigen – sicher können sie es noch nicht sagen -, die Schweinegrippe als nicht besonders gefährlich einzuschätzen, lohnt ein Blick auf die „gesellschaftliche Produktion von Epidemien“, wie der Untertitel von Mike Davis Buch über die Vogelgrippe (2005) lautet. Über eines nämlich sind die Experten seit längerem einig: Die Gefahr einer weltweiten gefährlichen Grippepandemie ist sehr wahrscheinlich.
Davis führt in seinem Buch vor allem vier Faktoren an, die zu dieser potenziellen Gefahr – der Evolution neuer, die Artengrenzen überspringenden Influenzasubtypen und dessen weltweite Übertragung – geführt haben. Erstens die Umwälzungen in der Massentierhaltung zwischen 1980 und 1990 als einem Teilaspekt der vollständigen Eroberung der Landwirtschaft durch den Agro-Kapitalismus: Durch die industrielle Massentierhaltung habe sich „der altmodische Schweinestall“ in „eine riesige Exkrementenhölle“ verwandelt: „Hundertausende Tiere mit geschwächten Immunsystemen ersticken in Hitze und Mist, während sie in schwindelerregender Geschwindigkeit Krankheitserreger austauschen.“ Um nur ein Beispiel für diese Konzentration der Massentierhaltung zu nennen: 1965 gab es 53 Millionen US-amerikanische Schweine auf einer Million Bauernhöfe, heute sind es 65 Millionen Schweine in 65.000 Farmen.
Zum zweiten galt die industrielle Revolution im südlichen China als ein wichtiger Faktor. Insbesondere die Provinz Guangdong hat sich mit „seiner produktiven Ökologie aus Reis, Fisch, Schweinen, domestizierten und wilden Vögeln“ sowie seiner Exportindustrie zu einem Epizentrum der Influenzaevolution entwickelt – insbesondere für das der Vogelgrippe. Heute hält das südliche China nicht mehr das „Monopol“ für diese Gefahren. Vor sechs Jahren wurde im US-Wissenschaftsmagazin Science davor gewarnt, dass das nordamerikanische Schweinegrippenvirus dabei sei, „auf die evolutionäre Schnellstrecke“ zu wechseln. Und vor einem Jahr stellte das Pew Research Center fest, dass die industrielle Nutztierproduktion die Übertragung des Virus auf den Menschen erhöhe. Das exportorientiert ökonomische Modell – gerade auch in der Nahrungsmittelproduktion – erhöht zudem die Gefahr der Verbreitung von Krankheitserregern.
Die Entstehung der Superslums in der Dritten Welt benennt Davis als die dritte globale Bedingung. Das Elend dieser Megaslums beschreibt Davis eindrucksvoll in seinem Buch „Planet der Slums“ (2007). Bezogen auf die Gefahr der Ausbreitung von Seuchen heißt es dort: „Im Grunde sind die Megaslums von heute noch nie da gewesene Brutstätten neuer und wieder aufkeimender Krankheiten, die mittlerweile mit der Geschwindigkeit eines Passagierflugzeugs um die Welt reisen können.“
Viertens werde der Kreis der Influenzaökologie durch das Fehlen eines internationalen Gesundheitssystems geschlossen. Infolge der neoliberalen Strukturanpassungsprogramme sind insbesondere in den Staaten des Globalen Südens die öffentlichen Investitionen in das Gesundheitssystem drastisch zurückgefahren worden bzw. es wurde darauf gesetzt, dass die Mechanismen des Marktes diese Aufgaben übernehmen. Sarkastisch merkt Davis an: „Ein glänzendes Beispiel für diesen neuen Ansatz war Zimbabwe, wo die Einführung von Gebühren (für Gesundheitsdienstleistungen, G.S.) in den frühen 1990ern zu einer Verdoppelung der Säuglingssterblichkeit führte.“
Die Reaktionsweise der WHO und die der allermeisten Länder vertraut bei Ausbruch einer Pandemie ebenso auf die Funktionsmechanismen des Marktes. Man nimmt an, dass nach Ausbruch einer Pandemie die Nachfrage zum Beispiel nach dem Mittel Tamiflu rechtzeitig durch die Pharmaindustrie befriedigt werde. Ein Irrglaube: Denn das Grippemittel muss in großen Mengen und mindestens einen Monat vor dem Höhepunkt der Epidemie hergestellt werden. Aber die Nachfrage setzt erst ein, wenn die Epidemie bereits ausgebrochen ist. Wenn aber die Absatzerwartung nicht entsprechend ist, wird auch nicht produziert.
Natürlich halten Staaten (in Deutschland ist dies Ländersache) bestimmte Vorräte an Tamiflu, doch dieser liegt – wenn denn Zahlen der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden – unter der angemessenen Menge, mit der rund ein Viertel der Bevölkerung versorgt werden sollte. In Baden-Württemberg sollen es etwa 14% sein, die Staaten der Dritten Welt haben indessen fast keine Vorräte. Insofern gibt es derzeit auch bereits die ersten Meldungen, dass der Schweizer Konzern Roche nicht mit der Produktion von Tamiflu hinterherkommt und Lieferengpässe entstehen. Im Moment hat er drei Millionen Einheiten auf Lager, das Hochfahren der Produktion dauert acht Monate. Legt man die Empfehlung zugrunde, dass ein Viertel der Weltbevölkerung im Falle einer Pandemie versorgt werden soll, hieße das eine Anzahl von 1,3 Milliarden Dosen.
Die Herstellung von Influenzaimpfstoffen drückt die ungleiche Verteilung noch treffender aus. 95% des Outputs, der lediglich von zwölf Firmen geleistet wird, wird zu 95% von den reichen Ländern angeeignet. Und selbstredend weigern sich die die Interessen der Pharmaindustrie vertretenden Politiker der entwickelten kapitalistischen Staaten, die Produktion von Generika in der Dritten Welt zuzulassen. Der Herausgeber der führenden britischen Medizinzeitschrift The Lancet schrieb anlässlich einer solchen Ablehnung: „Wieder einmal wird der Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln bei einem gesundheitlichen Notstand für die, die in Armut leben, um des Profit willen eingeschränkt“.
Die New York Times hat diesen strukturellen Widerspruch eines nach dem Profitprinzip organisierten Versorgungssystems als „chronische Unvereinbarkeit von Bedürfnissen im öffentlichen Gesundheitswesen und der privaten Kontrolle bei der Produktion von Impfstoffen und Medikamenten“ beschrieben. Profiteure dieses Systems sind freilich die großen Pharmakonzerne – so auch Roche, dessen Aktienkurs im Zuge der Schweinegrippe deutlich anstieg. Apropos Pharmakonzerne: Sie haben sich in weiten Teilen von der Entwicklung von Impfstoffen und Antibiotika, die tatsächlich Krankheiten heilen oder verhindern, verabschiedet, weil dies wenig profitabel ist. Die Arzneimittelriesen geben momentan 27% ihrer Einnahmen für Marketing aus und nur 11% für die Forschung. Das Time Magazine konstatierte: „Eine Grippeepidemie zu verhindern, an der Tausende sterben könnten, ist nicht auch nur annähernd so profitabel wie Pillen gegen so etwas wie erektile Dysfunktionen herzustellen.“
Ob die Schweinegrippe bereits zu dem führt, was Mike Davis als das Titanic-Paradigma beschrieben hat, bleibt abzuwarten. Doch der „Teufelskreislauf von epidemischer Krankheit, Slumarmut und neoliberaler Politik“ trifft auf globale Gesundheitsressourcen, die bereits jetzt viele Menschen unnötig sterben lassen – täglich etwa 5.000 an der im Westen als überwunden geltenden Lungentuberkulose – und bei einer gefährlichen Pandemie organisiert ist wie die Rettungsboote der Titanic: Die Passagiere der ersten Klasse (die Gutverdienenden der westlichen Welt) schnappen sich die Rettungsboote (Tamiflu etc.), während die des Zwischendecks (die Armen des Globalen Südens) keine Chance auf ein Rettungsboot haben.
„Kapitalismus im Nasenloch“ – meint also die „Schweinesystemfrage“ stellen.
Literatur
Mike Davis, Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien, 2. Auflage, Berlin/Hamburg 2006
Mike Davis, Kapitalismus im Nasenloch, in: WOZ vom 30.4.2009.
(aus: www.sozialismus.de)