Allein schon der Name ist bei Neoliberalen verpönt: Industriepolitik. Das klingt nach Staatseingriffen, Planwirtschaft und Protosozialismus – ein Graus für Marktgläubige. Insofern hörte man seit dem Siegeszug des Neoliberalismus ab Anfang der 1980er Jahre auch nicht mehr viel von Industriepolitik. Höchstens gewerkschaftliche Kreise oder keynesianische Zirkel diskutierten über sie.
Das hat sich inzwischen geändert. Seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 wird wieder mehr von Industriepolitik gesprochen. Vor Kurzem hat Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Debatte mit seinem Papier »Nationale Industriestrategie 2030« befeuert. Und auf dem kommenden EU-Gipfel im März soll ebenfalls über industriepolitische Weichenstellungen beraten werden.
Ziel Altmaiers ist es, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten – ein alter Hut. Neu ist der Ton der »strategischen Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik«: Denn Altmaier sagt klar, dass der Markt es nicht immer richten kann. Dann muss dem Minister zufolge der Staat eingreifen. Zum Beispiel indem er nationalen Champions eine Bestandsgarantie gibt oder die Batteriezellproduktion fördert.
Altmaier ist sich der Brisanz seiner Vorschläge, die im Übrigen von Kanzlerin Merkel unterstützt werden, bewusst. Aus diesem Grund hat er in seinem Papier immer wieder Formulierungen aufgenommen, die die (neo)liberalen Gemüter in der Ökonomenzunft wie in seiner Partei beruhigen sollen. Das nutzte nichts. Die liberalen Wirtschaftswissenschaftler_innen zerrissen das Papier aufgrund der vermeintlichen Abkehr vom Markt.
Was aber ist von Altmaiers Vorstoß zu halten? Ein Abrücken von der neoliberalen Lehre ist seine Strategie nur partiell. Diese ist ohnehin mehr Doktrin denn in der Realität vorzufinden. Industriepolitik wurde immer betrieben, mal mehr, mal weniger. Alle industriell entwickelten Staaten greifen in den Markt ein – sei es durch Zölle, die junge Industrien schützen, sei es durch Staatsbeteiligungen oder durch staatliche Forschungen, ohne die Innovationen wie das Internet, GPS, der Touchscreen oder Siri nicht das Licht der Welt erblickt hätten. Auch das Kurzzeitarbeitsgeld infolge der Krise von 2008 war eine industriepolitische Maßnahme, die vor allem die deutsche Autoindustrie schützen sollte. Ohne staatliche Eingriffe hätten sich Deutschland, die USA oder Südkorea nicht zu dem entwickelt, was sie heute wären: hoch entwickelte Industriestaaten. Daher hatte Industriepolitik nach dem Zweiten Weltkrieg auch einen guten Klang. Sie ist im Übrigen gut vereinbar mit keynesianischer Wirtschaftspolitik – und die war bis in die 1970er Jahre das bestimmende Paradigma.
Die neuen industriepolitischen Initiativen – auch Frankreichs Präsident unterstützt diese – reagieren auf die Umbrüche in der Weltwirtschaft und in der Geopolitik. Die USA unter Trump setzen auf einen harten nationalistischen Kurs und liefern sich mit China ein Rennen um die Hightechindustriesparten; schon wird von einem Kalten Krieg um Technologie gesprochen. Zwischen diesen beiden Giganten droht Deutschland und mit ihr die EU unter die die Räder zu geraten.
Angesichts dessen erscheint es Teilen der politischen Eliten allemal besser, zusätzliche Staatseingriffe zu fordern, um so die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu wahren. Ironischerweise können Altmaier und Merkel kaum kaschieren, dass sie im Grunde für das einstehen, was sie an den USA unter Trump stets kritisieren: eine nationalistische Wirtschaftspolitik.
Was bedeutet das für die Linke? Industriepolitik wird von ihnen weitgehend ignoriert. Ökos und Wachstumskritiker_innen monieren, dass diese auf mehr Wachstums setzt, also mehr Umweltverschmutzung bedeutet. Linksradikale und Feministen kritisieren, dass von industriepolitischen Maßnahmen in erster Linie männliche Arbeiter profitieren. Marxist_innen stoßen sich daran, dass durch Industriepolitik lediglich bestimmte Kapitalfraktionen gefördert werden. Alles richtig. Dennoch sollten Linke die Industriepolitik nicht links liegen lassen. Denn diese könnte ja auch den Ausstieg aus allen fossilen Industrien zum Ziel haben. Sie könnte gesetzliche Vorgaben beinhalten, durch Re-Regionalisierung der Wirtschaft aus der Exportorientierung auszusteigen, die zu Ungleichgewichten in der Ökonomie führt und Naturressourcen übermäßig beansprucht. Linke Industriepolitik könnte die Geschlechterungleichheit im Betrieb angehen. Und sie könnte die Verteilung der Profite hinterfragen und die Eigentumsfrage stellen. Dass die Umsetzung einer solchen Industriepolitik derzeit unrealistisch ist, steht freilich auf einem anderen Blatt.
aus: analyse & kritik 647, 19.3.2019