Der Gaspreisschock weitet sich zur europäischen Energiekrise aus
Ohne CO2-Versorgung wird Weihnachten abgesagt«, brachte es Ranjit Boparan, der Eigentümer der 2 Sisters Food Group, des größten Hühner- und Putenzuchtunternehmens Großbritanniens plakativ auf den Punkt. Der Grund: Der Schlachtindustrie fehlt es an CO2 zur Betäubung, Verpackung und Kühlung von Truthähnen. Das Kohlendioxid entsteht als Nebenprodukt bei der Herstellung von Dünger, für die große Mengen an Erdgas benötigt werden. Doch die Erdgaspreise explodieren derzeit, seit Anfang des Jahres haben sie sich verdreifacht (allerdings aufgrund der Wirtschaftskrise infolge der Coronapandemie von einem geringen Ausgangsniveau). An den Spotmärkten, wo Gas kurzfristig zum aktuellen Preis gehandelt wird, kostete der Kubikmeter Gas zeitweise zehnmal mehr als zu Jahresbeginn. Deshalb hat der US-Düngemittelhersteller CF Industries, der 60 Prozent des britischen Bedarfes für CO2 deckt, kürzlich vorübergehend die Betriebe stilllegen müssen.
Weihnachten ohne Weihnachtsbraten – das ist nur eine kuriose Folge des Gaspreisschocks, der die Politik in Europa derzeit beschäftigt und sich zu einer Energiekrise ausweitet, weil in der EU die Preise auf dem Großhandelsmarkt für Strom an die teuersten Kraftwerke gekoppelt sind. Zurzeit sind das die Gasmeiler. Hunderttausenden Menschen mit wenig Einkommen drohen höhere Kosten fürs Heizen – oder kalte Wohnungen. Das gilt insbesondere für Länder, in denen die Preise für die Endkund*innen schnell auf die Preise des Großhandels reagieren. Schon jetzt schätzt die EU-Kommission, dass 34 Millionen Menschen in Europa von Energiearmut betroffen sind. In Deutschland sind langfristig laufende Verträge die Regel. Aber auch hierzulande rechnen Verbraucherschützer*innen damit, dass es im Winter verstärkt zum Durchschlagen der gestiegenen Großhandelspreise kommen wird. Teure Preise für Energie – das ruft gerade in Frankreich aus Sicht der Regierung unangenehme Erinnerungen an die Gelbwesten-Proteste wach.
Was sind die Gründe für den enormen Anstieg der Erdgaspreise? Vor allem ist die schneller und kräftiger anziehende Konjunktur nach den Corona-Lockdowns in Asien zu nennen. Die höhere Nachfrage dort und die Bereitschaft, mehr für das Gas zu zahlen, lässt hierzulande die Preise steigen. Zumal in Europa selbst das Angebot geringer ist. Die Niederlande mussten aufgrund von Erdbebengefahr ihre Gasförderung reduzieren. Hinzukommt, dass infolge eines kalten Frühlings die Speicherstände in Europa niedriger als sonst sind. Für die in Großbritannien besonders krass gestiegenen Preise sind Sonderfaktoren zu nennen: Aus der Nordsee wird weniger Gas gefördert, die Speicherkapazitäten wurden in der Vergangenheit abgebaut und ältere Atomkraftwerke mussten plötzlich wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet werden. Denkbar auch, dass der Brexit ein Faktor ist. Der Energie-Binnenmarkt, dem London nun nicht mehr angehört, federt gewisse Preisschwankungen ab.
Ist Moskau schuld?
In der Politik wird mit dem Finger häufig auf Russland gezeigt. Aus Russland stammt rund die Hälfte der deutschen Gasimporte. Der harte Vorwurf lautet: Moskau und Gazprom manipulierten den Markt, der schwache Vorwurf, Gazprom könnte doch einfach mehr Gas liefern und somit durch ein größeres Angebot den Druck aus dem Markt nehmen. Für beide Vorwürfe gibt es wenig Belege. Die Bundesregierung stellt fest, dass sich Russland zumindest an die vereinbarten Verträge halte, und die EU-Kommission sieht keine Belege dafür, dass Russland die Gasmenge verknappt. Oliver Hermes, Vorstandschef des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, ist gar der Ansicht, dass Gazprom 40 Prozent mehr Gas geliefert hat als im Vorjahreszeitraum und russisches Gas auf dem Spotmarkt aktuell sogar günstiger sei.
Das hat auch Russlands Präsident Putin bemerkt, der genüsslich kommentierte: Die hohen Gaspreise in Europa seien das Ergebnis einer marktbasierten Preisentwicklung, die sich »Schlauköpfe« in der EU-Kommission ausgedacht hätten. Der Hintergrund sind Bestrebungen der EU, den Energiemarkt zu diversifizieren, um von Russlands Gas unabhängiger zu werden. Das führte dazu, dass Russlands Gas nicht ausschließlich durch langfristige Lieferverträge, sondern zusätzlich durch Handel auf dem Spotmarkt nach Europa gelangt.
Die hohen Energiepreise spielen den Befürworter*innen der Atomkraft in die Hände.
Dass Russland wiederum der Gaspreisschock auf dem globalen Markt mehr als gelegen kommt, ist unstrittig. Hat die russische Führung doch nun einen Hebel in der Hand, die Konzession für die Inbetriebnahme der höchst umstrittenen und bereits fertig gestellt Pipeline Nord Stream 2 früher zu erwirken. Schon wurde mit der »technischen« Befüllung begonnen, eine Art Testballon, wie weit man ohne Konzession bereits gehen kann. Und in der deutschen Politik werden erste vereinzelte Rufe laut, die genau das fordern, um die Preise zu drücken: eine schnelle Inbetriebnahme von Nord Stream 2.
Mehrere EU-Staaten haben derweil bereits Maßnahmen ergriffen, weil sie merken, dass Energiearmut zum sozialen Zündstoff in ihren Ländern werden könnte. Spanien, Italien und Griechenland haben Notfallpläne verabschiedet, Frankreich deckelte bis zu den Präsidentschaftswahlen im April 2022 die Preise für Gas. In Deutschland hat der erste Gasversorger seinen Betrieb eingestellt, in Großbritannien sind es bereits zwölf. Dessen Kund*innen müssen sich nun neuer Anbieter suchen – zu höheren Preisen.
Klimaschutz hat es nun noch schwerer
Auch auf Ebene der EU-Kommission wächst der Druck. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte Überlegungen an, ob und wie der Strom- vom Gaspreis entkoppelt werden könne. Auch über die gemeinsame Beschaffung beim Gas wird nachgedacht, analog zur Beschaffung von Impfstoffen in der Coronapandemie. Auf diese Weise könnte die EU in den Verhandlungen mit den Lieferanten bessere Konditionen herausschlagen.
Der Gaspreisschock hat eine weitere Konsequenz: Er legt die Schwächen des marktbasierten Klimaschutzes offen. Die EU plant, den Emissionshandel auf Gebäude und Verkehr auszuweiten. Angesichts der Preisrally auf den Energiemärkten würde das ärmere Menschen weiter belasten. Daher mehrt sich der Widerstand gegen diese Pläne, Victor Orban etwa macht den Green Deal der EU für die Preissteigerungen verantwortlich (da ist, wie die obigen Ausführungen zeigen, nur wenig dran). Gleichzeitig spielt der Gaspreisschock Befürworter*innen der Atomkraft in die Hände. Frankreich zum Beispiel, wo Atomkraft traditionell eine wichtige Rolle spielt, spricht sich für die Klassifizierung von Atomenergie als nachhaltige Energieform in der sogenannten EU-Taxonomie aus und hat Mitte Oktober angekündigt, eine Milliarde Euro in die Entwicklung von Mini-Kraftwerken zu investieren. Insgesamt sprechen sich zehn EU-Länder für Atomenergie als Übergangslösung auf dem Weg zur Klimaneutralität aus; darunter neben Frankreich Ungarn, Polen und Finnland.
In Großbritannien übrigens sprang die Regierung dem Düngemittelhersteller mit Geldern zur Hilfe. Allerdings zunächst nur für drei Wochen. Ob also ausreichend CO2 als Nebenprodukt anfällt, um Truthähne in ausreichender Menge für den Weihnachtsbraten zu schlachten, ist noch nicht gesichert.
aus: analyse & kritik 675, 19. Oktober 2021