Warum steigen die Preise?

Wieder wird die Nebelkerze »Lohn-Preis-Spirale« in der Teuerungsdebatte gezündet. Was aber ist mit der Gewinninflation?

Diese Sorgen möchte man haben: Im Februar scherzte der Finanzvorstand des britischen Mineralölkonzerns bp, Murray Auchincloss, er wisse gar nicht, was er mit dem ganzen Geld anfangen soll, das sein Konzern verdiene. In der Tat sprudeln nicht nur die Gewinne der Energiekonzerne, auch andere Unternehmen melden Rekordumsätze und Profite. So haben die deutschen börsennotierten Konzerne im ersten Quartal so viel wie noch nie verdient. »Allein die 40 Dax-Konzerne kamen auf einen Gewinn vor Steuern und Zinsen von 52,4 Milliarden Euro, das waren gut 20 Prozent mehr als im starken Vorjahr«, stellt das Handelsblatt fest. In dem Bericht heißt es weiter: Dank eines hohen Auftragsbestands und einer immer noch starken Nachfrage gelinge es den meisten Firmen, die höheren Preise mehr als nur weiterzureichen – und rasant steigende Gewinne einzustreichen.

Eine bemerkenswerte Aussage. Denn hier wird im Klartext ausgesprochen, dass die großen Konzerne die bereits seit 2021 ansteigenden Preise nutzen, um ihre Profite zu erhöhen. Darauf hatte die Bundesbank bereits im Dezember 2021 aufmerksam gemacht: Höhere Kosten aufgrund der Liefer- und Transportengpässe würden auf die Verbraucher*innen überwälzt und die Gewinnmargen bei starker Nachfrage ausgeweitet.

Perspektiven, die man in der aktuellen Diskussion über die Inflation selten hört. Klar: Die Energiepreise werden spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und einem möglichen Gasembargo von den allermeisten als Haupttreiber der derzeitigen Preiserhöhungen ausgemacht. Aber zumindest im Fokus der deutschen Diskussion steht die zaudernde Europäische Zentralbank (EZB), die es viel zu lange versäumt habe, den Leitzins anzuheben. Und die Beschäftigten, die doch jetzt bitte Lohnzurückhaltung üben müssten, weil zu hohe Tarifabschlüsse die sogenannte Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen würden. Demnach würden die Unternehmen auf hohe Lohnabschlüsse mit Preissteigerungen reagieren, die Gewerkschaften mit erneuten hohen Abschlüssen und so weiter und so fort.

Mit der Realität der gegenwärtigen Preissteigerungen hat das nicht viel zu tun. Das hat sogar der Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger anlässlich des erstens Treffens zur »konzertierten Aktion« im Kanzleramt nüchtern festgehalten: Löhne seien aktuell kein Inflationstreiber. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung schätzt den Reallohnverlust EU-weit wie für Deutschland für das laufende Jahr auf 2,9 Prozent.

Anstatt über eine Lohn-Preis-Spirale zu reden, wäre es angebracht, über eine Gewinn-Preis-Spirale oder eine Gewinninflation zu reden. In den USA ist schon vor wenigen Monaten eine Debatte über die Rolle der großen Konzerne bei den Preissteigerungen entbrannt. Es wurde sogar ein neues Wort dafür erfunden: Greedflation, abgeleitet vom englischen greed = Gier.

Inflation ist nicht gleich Inflation

Inflationen können verschiedene Ursachen haben, weshalb in den Wirtschaftswissenschaften zwischen angebots- und nachfrageseitigen Teuerungen unterschieden wird. Die sich ihrerseits auch noch mal differenzieren lassen. So gibt es etwa Lohnkosten-, Kostensteuer- und importierte Kosteninflationen oder auch Marktmacht- oder Gewinninflationen.

In der neoklassisch und monetaristisch geprägten Mainstream-Ökonomie steht die Erklärung im Vordergrund, dass eine Inflation durch eine zu große Geldmenge und damit eine das Angebot übersteigende Nachfrage verursacht werde. Das erklärt auch die Zielscheibe EZB, die nach der Finanz- und Eurokrise viel zu lange eine lockere Geldpolitik betrieben habe.

Löhne sind aktuell kein Inflationstreiber.

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger

Das trägt aber kaum zur Erklärung bei, warum die Inflationsraten erst seit letztem Jahr steigen, obwohl die EZB schon seit 2008 eine Niedrigzinspolitik fährt. 2021 war die Hauptursache die anziehende Weltkonjunktur nach dem ersten Coronajahr in Kombination mit gerissenen Lieferketten. Schon im Herbst war in der EU von einer Energiekrise die Rede. Im laufenden Jahr kommen zu diesem Grund die Unsicherheiten für die Energieversorgung infolge des russischen Krieges und der Sanktionspolitik des Westens hinzu.

Ursache für die Teuerungen sind also in erster Linie die gestiegenen Preise für Energie auf den globalisierten Märkten. Hierzulande (und in vielen anderen Ländern) haben wir es mit einer sogenannten importierten Kosteninflation zu tun, da Deutschland auf Energieimporte angewiesen ist. Und da Gas als Rohstoff für zahlreiche Industrien unverzichtbar ist, kommt es ausgehend von Energieunternehmen auf breiter Front zu steigenden Preisen. Denn in einem inflationären Umfeld nutzen auch andere Unternehmen die Gunst der Stunde, die Preise zu erhöhen.

Greedflation und Marktmacht

In den USA haben die Unternehmen laut Spiegel-Autor Thomas Fricke im zweiten Halbjahr 2021 mit fast 15 Prozent Gewinnquote nach Steuern so viel Profit gemacht wie seit Anfang der Fünfzigerjahre nicht. »Nach Berechnungen des Economic Policy Institutes ist mehr als die Hälfte des Anstiegs der Preise in den USA auf eine Ausweitung der Profite in den Unternehmen zurückzuführen. Heißt: Hätten die Firmen ihre Gewinne nicht ausgeweitet, wäre die Inflation rein rechnerisch nicht einmal halb so hoch ausgefallen.« Diese lag zuletzt bei 9,1 Prozent.

Und in Europa? Nach Schätzungen der EZB kam auch im Euroraum der größte Beitrag zur Inflation Ende 2021 vom Hochschnellen der Unternehmensprofite, so Fricke.

Dass die Konzerne ihre Preissetzungsmacht verstärkt einsetzen können, hat auch mit ihrer Marktmacht zu tun. Je größer diese ist, je weniger Konkurrenz sie haben, desto leichter fällt es ihnen, Preise anzuheben. Und im Zuge von jahrelanger neoliberaler Wirtschaftspolitik, die auf Privatisierung und Deregulierung zielte, sind zahlreiche Märkte von Oligopolen geprägt. Eine Studie des Roosevelt Institute legt diesen Zusammenhang von Preisen, Profiten und Macht nahe.

Spekulation und Algorithmen

Nicht nur die Marktmacht von Konzernen, in Marx´ Worten die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, hat sich in den letzten Jahrzehnten vergrößert. Auch die Rolle des Kapitals, das an den Finanzmärkten nach renditeträchtigen Anlagen sucht, ist durch Deregulierung, Privatisierung und eine Überakkumulation im sogenannten produktiven Sektor enorm gestärkt worden. Es strömt immer mehr Kapital an die Finanzmärkte, um dort kurzfristig Profit zu machen. Zum Beispiel auch mit der Spekulation mit Erdöl, Gas oder Nahrungsmitteln. (ak 671)

Schon 2006 hatte ein US-Report auf eine »Divergenz zwischen dem reichlichen Angebot an Rohöl und Erdgas und den rekordhohen Preisen« hingewiesen und dies zum Teil auf spekulative Geschäfte zurückgeführt. Seitdem hat das Gewicht des spekulativen Kapitals zugenommen, und es dürfte insbesondere auch den Anstieg der Preise für Energie und Nahrungsmittel seit dem 24. Februar verstärkt haben.

Wird ein neuer neoliberaler Rollback vorbereitet?

Kurz vor der russischen Invasion berichtete etwa die Financial Times unter der Überschrift »Beware the algorithms driving up oil prices«, dass enorm viel Kapital in Finanzwetten fließe, die auf einen Ölpreis von 100 US-Dollar setzten. Zwar sei der Auslöser der steigenden Preise in einer Verknappung des Angebots infolge des drohenden Krieges zu suchen, doch die Explosion der Wetten sei auf die Zunahme des automatisierten und auf Algorithmen basierenden Handels zurückzuführen.

2019 hatte die Commodity Futures Trading Commission, die die Future- und Optionsmärkte in den USA reguliert, festgestellt, dass etwa 80 Prozent der Energiegeschäfte durch automatisierte Eingaben ausgeführt würden (sechs Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 65 Prozent). Das Problem: Algorithmus-gesteuerter Handel stütze sich weniger auf sogenannte Fundamentaldaten, sondern auf kurzfristige Marktbewegungen. Was eine Befeuerung des Herdenverhaltens zur Folge habe – und mit heftigen Preisschwankungen in die eine wie die andere Richtung einhergehen könne. Menschliche und computergestützte Handelsstrategien seien immer stärker miteinander verflochten, was zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen könne, »erst recht, wenn es zu Schocks kommt, wie wir sie in der Ukraine erleben könnten«.

Liberalisierung der Energiemärkte

Hinzu kommt: Die Energiemärkte in Europa wurden seit 1998 liberalisiert. Anstatt auf langfristige Lieferverträge wurde auf Spotmärkte gesetzt. Diese orientieren sich an globalen Preisen. Folge: Die Preise schwanken häufiger, weil jetzt auch lokale oder regionale Ereignisse an den Handelsmärkten umgehend abgebildet werden. Früher hätten Ereignisse in den USA oder China kaum eine Rolle für den europäischen Gasmarkt gespielt, erklärt Sven Jordan vom Gasunternehmen Wingas in der Wirtschaftswoche. Für auf kurzfristige Investments ausgerichtete Finanzinvestor*innen sind volatile Preise gut, weil so die Gewinnmargen höher ausfallen.

Halten wir fest: Eine falsche Analyse der Ursachen der Inflation führt zu falschen Gegenmaßnahmen. Zurückhaltung bei den Löhnen bedeutet Kaufkraftverlust und ändert nichts an den gestiegenen Energiepreisen. Höhere Leitzinsen der EZB werden nicht dazu führen, dass Putin mehr Gas liefert und sich die Lage an den Gasmärkten entspannt. Höhere Zinsen werden aber dafür sorgen, dass sich Kredite verteuern, weniger investiert wird, zum Beispiel in Erneuerbare Energien, die die deutsche Wirtschaft unabhängig von den volatilen Preisen für fossile Energien machen könnte, und dass die Konjunktur abgewürgt wird. Dann käme es zwar zu sinkenden Preisen, aber auch zu weniger Steuereinnahmen und erhöhter Erwerbslosigkeit. Höhere Zinsen beschwören zudem eine neue Euro-Krise herauf.

Zwar hat die Bundesregierung mit dem 9-Euro-Ticket und dem Tankrabatt zwei Instrumente angewendet, die die Inflationsrate im Juni und Juli leicht sinken ließen. Aber sie laufen Ende August aus. Dann drohen steigende Preise – zumal ab Oktober noch die Gasumlage hinzukommt.

Die Frage ist: Warum betreiben die politischen und ökonomischen Eliten eine Politik, die in einer Rezession enden könnte und mehr Armut in Kauf nimmt? Es könnte sein, dass sie wie in den 1970er Jahren die Inflation ausnutzen wollen, um eine Rezession herbeizuführen und die Arbeitslosigkeit in die Höhe zu treiben. Damit könnten sie einer gestiegenen Verhandlungsmacht der Beschäftigten im Voraus begegnen. So die Vermutung von Thomas Fazi (makroskop.eu, 22.6.2022), einem italienischen Schriftsteller und Journalisten. Ein neuer neoliberaler Rollback also. Gegenargument: Die Arbeiter*innenschaft ist doch ohnehin geschwächt, die Tarifbindung in Deutschland liegt unter 50 Prozent, in den 1970er Jahren waren es mehr als 70 Prozent. Doch, so Fazi, es zeichne sich nicht zuletzt aufgrund der Überalterung ein Fachkräftemangel ab, der die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften stärken dürfte. Zudem lassen die Tendenzen hin zur De-Globalisierung und Rückverlagerungen von Produktionsstandorten den Arbeitskräftebedarf steigen. Das sind nicht die schlechtesten Voraussetzungen für eine Revitalisierung gewerkschaftlicher Kämpfe.

aus: analyse & kritik 684, 16. August 2022

 

 

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