Zwei Tage vor dem Start des größten Luftwaffenmanövers in der Geschichte der NATO ist es am logistischen Drehkreuz der Übung erstaunlich ruhig. Von geschäftigem Treiben ist am Samstag auf dem Fliegerhorst Wunstorf bei Hannover nichts zu spüren. Keine Militärmaschine startet oder landet. Anders sieht es vor dem Militärflugplatz der Bundeswehr aus. Dort nähert sich gegen halb zwölf eine Gruppe von etwa 50 Radfahrern und biegt mit lautem Klingeln links in die Straße „Zur Luftbrücke“ ein, die zum Haupttor des Fliegerhorstes führt.
Einige Radfahrer tragen Fahnen mit Friedenstauben oder der Aufschrift „Pace“. Wenig später kommen hunderte schweigende Menschen angelaufen, begleitet von der Polizei und angeführt von einem Dutzend Menschen in leuchtend weißen Overalls, die Pappschilder mit dem Wort „Frieden“ vor sich her tragen. Mit dabei: Symbole der Friedensbewegung und Transparente mit eindeutigen Anti-NATO-Statements. Fahrraddemo und Schweigemarsch sind die beiden Zubringerdemos zur eigentlichen Hauptveranstaltung des Tages: Vor dem Fliegerhorst findet eine Kundgebung mit dem Motto „Frieden üben – statt Krieg“ statt. Der Beginn ist symbolkräftig auf 11.55 Uhr angesetzt.
Auslöser ist das Manöver „Air Defender 2023“, an dem von diesem Montag an bis zum 23. Juni 10.000 Soldaten aus 25 Nationen mit rund 250 Flugzeugen teilnehmen und die Verteidigung des Bündnisgebietes üben. Das trage zur Eskalation des Russland-Ukraine-Krieges bei, heißt es in dem Demo-Aufruf. Die Polizei spricht von rund 300 Teilnehmern. Gerhard Biederbeck von der Friedensinitiative Neustadt/Wunstorf, der die Demo angemeldet hat, von 450 bis 500 Menschen. Das dürfte realistischer sein. Lediglich ein Grüppchen einer traditionskommunistischen Jugendorganisation senkt den Altersdurchschnitt erheblich.
Eine Deutschlandfahne weht Im Wind. Die Moderatorin bittet darum, sie einzurollen. Denn das ist den Veranstaltern wichtig: „Nationalistische, rassistische, antisemitische oder militaristische Inhalte haben auf dieser Kundgebung keinen Platz“, heißt es auf den rund 900 verteilten Flyern, die vorab verteilt wurden.
Unter anderem von Gerhard Biederbeck. Er ist das Urgestein der Friedensinitiative Neustadt/Wunstorf. Seit 40 Jahren ist der fast 75-Jährige dabei. Sein Antrieb rührt aus seinen christlichen Überzeugungen, wie er in einem Gespräch mit dem Freitag erläutert, zwei Tage vor der Kundgebung. Jesus, Franz von Assisi, die internationalen Jugendtreffen von Taizé – davon sei er tief geprägt. „Und natürlich von Ghandi und Mandela mit ihrer Gewaltlosigkeit.“ Biederbeck war in der evangelischen Jugendarbeit tätig und ist dann Lehrer für Religion, Deutsch und Politik geworden.
Als Russland die Ukraine überfiel und die NATO das Land mit immer neuen Waffenlieferungen unterstützte, reaktivierten er und seine Mitstreiter die Friedensinitiative, die zuvor auf eine zehnjährige Aktivitätsphase zurückblicken konnte. Sie organisierten politische Vorträge, etwa zur geostrategischen Bedeutung des Krieges, aber auch Kulturveranstaltungen mit Lesungen und Musik. Rund 15 bis 20 Leute kommen regelmäßig zu den Treffen. Meistens Ü60. Menschen, die „herzmäßig spürten, dass etwas falsch läuft“, so Biederbeck. Im Gegensatz zu früheren Jahren fehle das Bildungsbürgertum jedoch komplett.
Wehrhafte Kids für Neustadt!
Vor allem die Sorge vor einer atomaren Eskalation des Ukraine-Krieges treibe die Leute hierher, erklärt der Friedensaktivist. Und dass die Politik die Prioritäten falsch setze. „Wenn doch nur alle Kraft in diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges gesteckt würde, statt in Ideen, wie man Russland besiegen kann!“ Er verweist auf die vorliegenden diplomatischen Friedensvorschläge, zuletzt den aus Indonesien: Dieser sieht vor, dass sich beide Kriegsparteien um 15 Kilometer zurückziehen und diese Zone dann von UNO-Friedenstruppen überwacht wird. Biederbeck erschrecken auch Töne, die auf eine Militarisierung der Gesellschaft hindeuten. Etwa wenn beim Neujahrsempfang der Stadt Neustadt gefordert werde, Kinder wieder „wehrhaft“ zu erziehen.
Auf der Kundgebung vor dem Fliegerhorst sorgen Songs der Ska- und Reggaeband Peace Development für Unterhaltung zwischen den Redebeiträgen. In einem skizziert Hubert Brieden vom „Arbeitskreis Regionalgeschichte“ die Geschichte des Fliegerhorsts Wunstorf. Von diesem aus wurden 1937 Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung im baskischen Guernica geflogen. Auch an der systematischen Zerstörung jüdischer Viertel in Warschau war das in Wunstorf stationierte Geschwader Boelcke beteiligt. Klaus Armbruster, der seit 30 Jahren in Bilbao lebt und im baskisch-deutschen Kulturverein aktiv ist, berichtet, dass diese Erfahrung im Baskenland noch tief verwurzelt sei. Er sagt: „Soldaten werden nicht zur Abschreckung ausgebildet. Auch heute nicht.“ Dann ergreift Gerhard Biederbeck als letzter das Wort.
Er steigt ein mit der Meldung von Samstag, dass die Verlegung von russischen Atomwaffen unmittelbar vor dem NATO-Gipfel in Litauen am 11. und 12 Juli beginnen werde. „Ratet doch mal, wie die Nato darauf reagieren wird? Natürlich wird sie auch auf dieser Ebene eine Antwort geben. Es geht hier um die Gefahr eines dritten Weltkrieges!“ Ihm ist es wichtig, Informationen zu Air Defender 2023 zu geben, die in der Berichterstattung untergehen. Zum Beispiel, dass die Piloten Anweisung bekommen haben, bei diesem Manöver zu kämpfen, als seien sie im richtigen Krieg. „Hier wird nicht nur Manöver geübt, sondern hier wird ein Kriegsszenario durchgespielt – und zwar auch im Baltikum bis hin zur russischen Grenze.“ Für Biederbeck ist klar: „Dieses Manöver dient nicht der Abschreckung, sondern der Vorbereitung auf den Krieg.“
Derweil tut sich auch etwas auf dem Gelände des Fliegerhorstes. Ein paar Soldaten haben sich versammelt und scheinen das Treiben vor dem Tore zumindest interessiert zu verfolgen.
aus: der freitag, 24/2023