Konterkarierung des Tabus

Der Expertenbericht »Antisemitismus in Deutschland«

Die Entdeckung der Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« vor wenigen Wochen hat zu Recht für ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit gesorgt. Diese scheint indes so hoch gewesen zu sein, dass andere mit dem Thema zusammenhängende Ereignisse, kaum beachtet wurden. So verhallte die Veröffentlichung des vom Bundestag in Auftrag gegebenen Berichts »Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze« weitgehend ungehört, wie etwa Timo Reinfrank von der Amadeu-Antonio-Stiftung feststellt. War ursprünglich geplant gewesen, den Bericht symbolträchtig am 9. November zu publizieren, wurde er zwei Tage später »still und heimlich«, wie Die Welt formuliert, auf die Internetseite des Bundesinnenministeriums gestellt.

Was sind die zentralen Ergebnisse der Autorengruppe um den Historiker Peter Longerich und der Mitarbeiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung Juliane Wetzel? Zunächst legen sie Wert darauf, die durchaus sehr unterschiedlichen Formen des Antisemitismus als spezifische Form der Diskriminierung verstanden zu wissen –verglichen mit der von Minderheiten im Allgemeinen.

Vielleicht das wichtigste Resultat ist, dass entgegen der medialen Berichterstattung und der Schwerpunktsetzung des Verfassungsschutzes der »Rechtsextremismus« der primäre Träger des Antisemitismus ist. So wurden 90% der antisemitischen Straftaten im Jahr 2010 von »Rechtsextremen« verübt. Gleichwohl ist der Antisemitismus nicht das zentrale Ideologieelement desselben; er wird vielmehr überlagert durch Themen wie Rassismus, Überfremdung etc.

Als weiteren Träger von Antisemitismus nennen die Autoren den Islamismus. Bei ihm finden sich sämtliche Ausprägungen des religiösen, politischen und sozialen Antisemitismus sowie des sekundären Antisemitismus, also jener Judenfeindschaft, die den Juden die »Ausbeutung« des Holocaust vorwirft. Vom Islamismus ist jedoch die Frage der Verbreitung von Antisemitismus unter Muslimen zu trennen. Gesicherte Erkenntnisse über die vielfach geäußerte Meinung, wonach islamisch geprägte Milieus Brutstätten des Antisemitismus seien, existierten nicht. Angeführt wird überdies eine Studie aus Frankreich, wonach Muslime mehrheitlich nicht antisemitisch seien (139). Dennoch zeigten verschiedene Ereignisse der letzten Jahre, dass der islamistische Antisemitismus insbesondere arabisch- und türkischstämmige Jugendliche mobilisieren und radikalisieren könne (173). Hier fordert der Bericht konsequenterweise weitere Forschungen ein.

In Bezug auf den so genannten Linksextremismus wird festgehalten: Dieser sei eindeutig nicht Träger des Antisemitismus, obwohl es auch in diesem Spektrum gelegentlich Positionen gebe, die als antisemitisch zu klassifizieren seien. Eigens wird das globalisierungskritische Netzwerk Attac sowie die Partei DIE LINKE analysiert, weil sich diese Organisationen gelegentlich mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert sehen bzw. darüber auch interne Diskussionen führen. Die Bewertung ist auch hier recht abgewogen. Attac wird weitgehend entlastet; als Problem wird die Problematik der analytischen Trennung von Real- und Finanzkapital angeführt. Diese berge die Gefahr in sich, antisemitische Vorstellungen von schaffendem und raffendem Kapital Vorschub zu leisten.

Die Aktivitäten der Linkspartei und ihrer Stiftung gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus werden dokumentiert, aber es wird auch auf die Vermischung von Antizionismus und Antisemitismus in dieser Partei hingewiesen und eine intensivere Auseinandersetzung darüber angemahnt. Die Gefahr einer personalisierenden, verkürzten Kapitalismuskritik, die antisemitisch konnotiert sein kann, schätzen die Autoren des Berichts im »Linksextremismus« (worunter sie z.B. Organisationen wie DKP und MLPD verstehen) als gering ein; vielfach werde im Gegenteil vor einer solchen zu kurz greifenden Kritik gewarnt.

Interessant liest sich darüber hinaus die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf des »strukturellen Antisemitismus«, der von der antideutschen Linken erhoben wird. Dieser meint, dass es zwischen Antisemitismus und spezifischen Ausprägungen linker Ideologie formale Gemeinsamkeiten wie Manichäismus, Gut-Böse-Einteilung der Gesellschaft, Existenz von Feindbildern und Personalisierungen gebe. Dagegen wird eingewandt, dass mit dem Antisemitismus eine konstitutive Feindschaft gegen eine besondere Personengruppe in Gestalt der Juden verbunden ist. Das jedoch sei eine inhaltliche Bestimmung und keine formale. Insofern, so das Resümee, müsse die Auffassung von einem »strukturellen Antisemitismus« als Analyseinstrument aus methodischen Gründen verworfen werden (24).

Gegen die These des »strukturellen Antisemitismus« in der Linken spricht ferner die Feststellung des Berichts, dass der Antisemitismus bei sich selbst als links einschätzende Personen gering ausgeprägt ist. Zwar ist er auf der »äußeren« etwas höher als auf der »gemäßigten« Linken, aber auch hier liegt er noch erheblich unter den Wert für Personen, die sich der politischen Mitte zurechnen (58).

Apropos politische Mitte: Demoskopischen Umfragen zufolge ist latenter Antisemitismus bei rund 20% der deutschen Bevölkerung, also durchaus bis in die politische Mitte, zu finden. Die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts war dabei die Folgende: Nach einem Anstieg zu Beginn der 2000er Jahre, der auf den Beginn der zweiten Intifada zurückgeführt wird, gab es von 2004 bis 2006 einen Rückgang der antisemitischen Einstellungen. Seit 2007/08 ist jedoch wieder ein Anstieg zu beobachten, der allerdings das Niveau von 2002 noch nicht wieder erreicht hat. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland übrigens im Mittelfeld, was die Verbreitung von Antisemitismus anbelangt.

Als zentrales Fazit des Berichts können folgende Sätze gelten: »Die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus im öffentlichen Diskurs, die bisher für die Bundesrepublik kennzeichnend war, droht damit [durch moderne Kommunikationsformen wie das Internet], entscheidend an Wirksamkeit zu verlieren. Besonders gefährlich erscheint die Anschlussfähigkeit des bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichenden und nicht hinreichend geächteten Antisemitismus für rechtsextremistisches Gedankengut« (178). Eine wesentliche Rolle spiele dabei der Antisemitismus in Gestalt der Israelkritik und der Schuldabwehr.

Was Präventionsmaßnahmen anbetrifft, ergibt sich daraus vor allem eine Konsequenz: Um der Verbreitung von Antisemitismus entgegenzutreten, reicht es nicht allein aus, als Negativbeispiel auf den rassistischen Antisemitismus der Nazis zu verweisen (im Gegenteil besteht hier sogar die Gefahr, dass Klischees der Juden als Opfer reproduziert und SchülerInnen moralisch überfordert werden, was zu sekundären Antisemitismus führen kann). Vielmehr muss die Prävention über die historisch-politische Bildung hinausgehen und aktuelle Ausprägungen des Antisemitismus in Gestalt des Nahost-Konflikts, des Islamismus, des sekundären Antisemitismus sowie der verkürzten und personalisierenden Ökonomiekritik in den Fokus nehmen (156). Des Weiteren wird bemängelt, dass die Präventionsmaßnahmen in Deutschland weitgehend uneinheitlich erfolgten und ihnen keine umfassende Strategie zugrunde liege.

Kurzum: Der »Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus« hätte in der Tat mehr Resonanz verdient. Zwar ist zu bemängeln, dass er stillschweigend das in der Tradition des Totalitarismusansatzes stehende Extremismuskonzept übernimmt – welches insbesondere auf staatlicher Ebene die Blindheit auf dem rechten Auge befördert und der Kriminalisierung von unter »Linksextremismus«-Verdacht stehenden antifaschistischem Engagement Vorschub leistet (vgl. den Kommentar »Durcheinandergeratene Dimensionen«). Jüngstes Beispiel einer langen Kette ist der Fall des Pfarrers Lothar König, der wegen der Unterstützung einer Dresdner Anti-Nazi-Aktion im Februar 2011 wegen »aufwieglerischen Landfriedensbruch« belangt werden soll.

Der Bericht verdeutlicht des Weiteren, dass die derzeit laufende Diskussion um ein erneutes NPD-Verbotsverfahren zu kurz greift. Zu kurz, weil der Zeigerfinger, der auf die NPD zeigt, zu einer Hand gehört, die mit drei Fingern auf sich selbst weist (vgl. dazu »Doppelstrategie gegen Rechtsextremismus«).

Der Bericht ist hier als pdf-Datei erhältlich.

(aus: www.sozialismus.de, 14.12.2011)

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