Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Suhrkamp, Berlin 2011, 248 S., 19,90 Euro
Colin Crouchs 2004 im Englischen und 2008 im Deutschen erschienenes Buch „Postdemokratie“ wurde auch aufseiten der Linken zu einem der meist zitierten politikwissenschaftlichen Texte der letzten Jahre. Und das zu Recht, verdichten sich in diesem schmalen Essay doch die Debatten um Politikverdrossenheit, Sozialabbau und Privatisierung auf prägnante Weise. Insofern beginnt man mit Spannung die Lektüre des neuen Bandes des an der Warwick Business School Lehrenden Professors. Ist die Lektüre beendet, stellt sich Enttäuschung ein. Zwar wirft Crouch richtige Fragen auf, benennt wichtige Probleme und kritisiert bislang nicht genügend beachtete Widersprüche des Neoliberalismus. Doch kommt er vor dem Hintergrund eines idealisierten Verständnisses von liberaler Marktwirtschaft zu zweifelhaften Antworten.
Aber der Reihe nach: Ausgangsfrage von Crouch ist – der Titel bringt es auf den Punkt – das befremdliche Überleben des Neoliberalismus angesichts der von ihm selbst herbeigeführten globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise von 2008/09. Crouch macht dieses Überleben an der Tatsache fest, dass die Banken nach der Krise noch höhere Risiken eingehen, weil sie wissen, dass der Staat sie „raushauen“, sprich ihre Rettung auf Kosten der breiten Bevölkerung finanzieren wird (148). Dies ist eine Beobachtung, die sich angesichts der drohenden Griechenland-Pleite und der daraus resultierenden erneuten Bankenrettungen derzeit (Mitte Oktober 2011) als sehr hellsichtig erwiesen hat. Crouch beklagt des Weiteren, dass von der geplanten Re-Regulierung der Finanzmärkte nichts übrig geblieben ist. Im Gegenteil: Im Jahr 2010 seien alle Praktiken auf den sekundären Märkten wieder in Kraft gewesen (172).
Wie aber ist das zu erklären? Den Kern hierzu sieht Crouch in der marktbeherrschenden Rolle der großen Konzerne und des damit verbundenen Einflusses in Gestalt des Lobbyismus. Er kritisiert die gegenwärtige politische Debatte, weil sie sich auf die Frage Staat oder Markt konzentriert und damit übersieht, dass die eigentliche Gefahr von den Großkonzernen ausgeht. Entgegen der neoliberalen Rhetorik und Ideologie von der freien Marktwirtschaft würde de facto Raum für eine Verflechtung von Staat und Wirtschaft geschaffen, die „ernsthafte Probleme sowohl für den freien Markt als auch für die Redlichkeit öffentlicher Institutionen aufwerfe“ (37).
Den Lobbyismus von Unternehmensvertretern z.B. macht Crouch zumindest zum Teil für die steigenden Einkommensunterschiede, häufigere Entlassungen und zunehmende Wirtschaftskorruption verantwortlich (101). Auch die Verwässerung der Reform des Gesundheitswesens ist Crouch zufolge auf den Einfluss von amerikanischen Krankenversicherern, Krankenhäusern und Pharmakonzernen zurückzuführen. Er zitiert den ehemaligen Chefökonomen des IWF Simon Johnson, der meinte, die Finanzbranche kontrolliere die US-Regierung inzwischen auf eine Weise, die man sonst nur von Entwicklungsländern kenne (103). Insgesamt führe diese Entwicklung „nicht wie im Faschismus oder Kommunismus zur Entstehung eines totalitären Systems, aber doch zu einer Instrumentalisierung des Staats im Sinne jener Konzerne“. (104) Crouch spricht daher an einer Stelle vom Neoliberalismus als „Klassenprojekt der Finanzkapitalisten“ (160).
So interessant Crouchs Stoßrichtung gegen den Neoliberalismus als Klassenprojekt und gegen die marktbeherrschende Rolle der Großunternehmen ist, destso fragwürdiger ist seine Argumentationsbasis. Im Kern scheint diese nämlich in einer Art zivilgesellschaftlich-liberaler Position zu bestehen, die den Markt nicht prinzipiell infrage stellt, sondern über dessen Möglichkeiten und Grenzen aufklären, und „insbesondere das Phänomen des Marktversagens besser verstehen möchte“ (54). Auf der anderen Seite grenzt sich der Autor explizit gegen sozialistische und sozialdemokratische Positionen ab, die bei der Alternative „Staat oder Markt“ auf Ersteren setzen: „Wir müssen den Anspruch des Staates, daß in erster Linie er in moralischen Fragen das Sagen hat, ebenso infrage stellen wie den der Konzerne, die privilegierten Zugang zum Staat verlangen und fordern, daß in Fragen des Gemeinwohls allein ihrem Urteil zu vertrauen sei.“ (212)
Crouchs Ansatzpunkt zur Lösung der analysierten Problemlage ist die Stärkung der viel beschworenen Zivilgesellschaft. Es sei nicht seine Absicht, einer Abschaffung der Großkonzerne das Wort zu reden. Der amerikanische Liberalismus der Jefferson-Ära und der europäische Marxismus, die, ansonsten ziemlich uneins, etwas Derartiges fordern würden, seien Träume der Vergangenheit. Crouch plädiert stattdessen für „das Eingreifen einer vierten Kraft, nämliche einer engagierten, kampflustigen, vielstimmigen Zivilgesellschaft, die die Nutznießer des neoliberalen Arrangements mit ihren Forderungen unter Druck setzt und ihre Verfehlungen anprangert.“ (14) Freilich ist er sich der Gefahr bewusst, dass auch zivilgesellschaftliche Organisationen von staatlichen Institutionen kooptiert werden können, doch sein Begriff von Zivilgesellschaft bleibt im Fahrwasser des normativen Liberalismus. Gramscis analytischer Zugang zu diesem Thema findet nicht einmal Erwähnung. Das muss man einem zivilgesellschaftlichen Liberalen nicht zum Vorwurf gereichen. Für in der marxistischen oder Kritischen Theorie stehende LeserInnen ist Crouchs Text neben der streckenweisen fundierten – allerdings nicht weit genug gehenden – Marktkritik mithin nur insofern interessant, als dieser auf theoretischer Ebene einen Bruch im bürgerlichen Lager artikuliert, der mit der erneuten Zuspitzung der Schuldenkrise noch an Dramatik hinzugewinnen wird: Es geht um die Frage, ob sich Teile des Bürgertums endlich zu einer Positionierung in Worten und Taten gegen die Finanzmärkte werden aufraffen können bzw. vielmehr von sozialen Protestbewegungen dazu getrieben werden.
(aus: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 88, Dezember 2011)