Der Mythos Dresden und die Wandlungen der deutschen Erinnerungskultur
In den 1950er Jahren wurden in Nürnberg die Steine einer zerstörten jüdischen Synagoge für den Bau eines Denkmals zum Gedenken an die deutschen Bombenopfer genutzt. Dieses Beispiel macht anschaulich, was der Essayist und Journalist Eike Geisel über die Situation der frühen Bundesrepublik in folgende Worte fasste: »Die Deutschen hatten zwar den Krieg verloren, sollten aber als Vernichtungsgewinnler aus ihm hervorgehen, indem sie den Ermordeten noch die Rolle des Opfers stahlen.«
Insbesondere der Luftkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte in den letzten Kriegsjahren bot sich an, um in diese Opferrolle zu schlüpfen. Das schien aus Sicht der Täter auch bitter notwendig zu sein, plagten so manchen von ihnen doch ein schlechtes Gewissen und das Bedürfnis nach Schuldabwehr angesichts der aktiv begangenen oder tolerierten bis dato präzedenzlosen Verbrechen.
Die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 durch englische und amerikanische Flugzeuge diente und dient beim Verdrängungsmuster gegenseitiger Schuldaufrechnung als Musterbeispiel. Denn hier, so die zentralen Bestandteile des Mythos Dresden, seien bis zu 300.000 Tote zu beklagen, sei die Bombardierung der angeblich von Flüchtlingen überfüllten Stadt nicht kriegsentscheidend gewesen, seien besonders perfide Mittel wie Phosphorbomben und Tieffliegerangriffe eingesetzt und zudem noch eine barocke Kulturhauptstadt dem Erdboden gleichgemacht worden.
All diese Annahmen stimmen jedoch nicht. Sie lassen sich u.a. auf zeitgenössische Nazi-Propagandakampagnen zurückführen, deren Elemente sowohl in der DDR als auch in der BRD bis in die 1980er bzw. 1990er Jahre weiterlebten – bis sich kritische HistorikerInnen und PublizistInnen an ihre Widerlegung machten und antifaschistische Gruppen die Kritik an den Legenden aufgriffen. Durchaus mit Erfolg: Heute hat sich die Demontage des Dresden-Schwindels partiell bis in die offizielle Erinnerungspolitik der Stadt Dresden und der Berliner Republik fortgesetzt. So wurde, um nur ein Beispiel anzuführen, die Opferzahl der Angriffe durch eine Dresdner Historikerkommission auf 18.000 bis 25.000 geschätzt – was manche ZeitzeugInnen und ZeitungsredakteurInnen nicht davon abhält, die Zahlen immer noch höher anzusetzen. Mythen sind hartnäckig …
Die Demaskierung der Legenden um Dresden vollzieht sich dabei seit etwa zwei Jahrzehnten in einem gewandelten geschichtspolitischen Umfeld. Die Stichworte hier sind neuer Opferdiskurs, Universalisierung des Holocaust, Bekenntnis zur deutschen Täterschaft und opferidentifizierte Gedenkkultur.
Der neue Opferdiskurs setzte nach der berüchtigten Paulskirchen-Rede von Martin Walser 1998 ein. In dieser hatte der Schriftsteller das Ende der »Dauerpräsentation unserer Schande« gefordert, und damit dem Bedürfnis vieler Deutschen Ausdruck gegeben, unter die deutschen Verbrechen einen Schlussstrich ziehen zu wollen. Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, kritisierte Walser daraufhin als »geistigen Brandstifter«. In diesem Zusammenhang muss auch die breite Rezeption von Werken wie Günter Grass Novelle »Im Krebsgang« über die Vertreibung der Deutschen oder Jörg Friedrichs Buch »Der Brand« über die Bombardierung deutscher Städte gesehen werden, die die neue Opferdebatte richtig ins Rollen brachte. Fortsetzung fand sie in diversen Büchern über Flucht und Vertreibung der Deutschen und der Thematisierung der Vergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee.
Das Problematische an dieser Opferdebatte ist, dass ihr eine Täter-Opfer-Umkehrung zugrunde liegt, die auf eine Relativierung der deutschen Verbrechen – insbesondere des Holocaust – hinausläuft. Der gesellschaftliche Kontext des deutschen Nazifaschismus verschwindet zugunsten einer moralischen Betrachtungsweise. Die Neue Zürcher Zeitung hat dieses Narrativ als »mentalen Status quo der Berliner Republik im neuen Jahrhundert« bezeichnet. Die immer wieder vorgeschobene Behauptung, dass ein Gedenken der deutschen Opfer in der Vergangenheit mit einem Tabu belegt worden sei, lässt sich eindeutig widerlegen. Sie dient vielmehr der Inszenierung des Sprechers als mutigen Tabubrecher, dem es um ein höheres Maß an Aufmerksamkeit geht. Auf Dresden angewandt: Das Gedenken an die Bombardierung der Stadt wurde »zur Schaffung eines Nationalmythos genutzt, mit dem die Deutschen Auschwitz vergessen machen wollten,« wie es in der Zeitschrift konkret anlässlich des 50. Jahrestages 1995 hieß.
Heute ist der »mentale Status quo« der Bundesrepublik allein mit dem Opferdiskurs nur unzulänglich beschrieben. Deren politischen RepräsentantInnen haben das Bekenntnis zur deutschen Schuld und Singularität des Holocaust in ihr rhetorisches Arsenal aufgenommen. Insofern stellt die sich aus der Paulskirchen-Rede entspinnende Walser-Bubis-Debatte das letzte Nachhutgefecht der klassisch-konservativen Schlussstrich- und Verdrängungsmentalität dar. Angedeutet hatte sich dies bereits mit der Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäcker 1985 anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus. In dieser sprach er sich für das Gebot des Erinnerns an die Naziverbrechen aus; Erinnern sei der Weg zur Versöhnung. Unter der rot-grünen Koalition ab 1998, deren führende Figuren ehemalige 1968er waren und damit Anteil an der Aufkündigung des »Davon haben wir nichts gewusst« der Tätergeneration hatten, überführten dann das Gebot des Erinnerns und das Schuldbekenntnis in einen bis heute andauernden staatsoffiziellen Modus. Materielle Gestalt hat dieser in dem Holocaust-Mahnmal in Berlin gefunden. So viel Auschwitz war nie, könnte man salopp sagen. Walsers Warnung vor der »Dauerrepräsentation unserer Schande« war also vergebens. Sie ist Mainstream in der Berliner Republik geworden.
Doch der Weg von 1968 bis 1998 war lang. War man damals durch die Orientierung an marxistischen Faschismustheorien an den gesellschaftlichen Ursachen für den Siegeszug des Nationalsozialismus und der Verhinderung erneuter faschistischer Tendenzen interessiert, war unter Rot-Grün – und ist bis heute – ein anderes Motiv ausschlaggebend. Das ritualisiert vorgetragene Schuldbekenntnis geht zumeist mit einem Lob der deutschen Vergangenheitsbewältigung einher. Nicht die historischen Prozesse, die in Auschwitz kulminierten, stehen im Zentrum der Erinnerung, sondern diese sind nur willkommener Ausgangspunkt, um die angeblich gelungene bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung herauszustellen. Wie Franzosen ihr positives Nationenverständnis aus der Revolution von 1789, die Amerikaner ihres aus der Revolution von 1776, so beziehen die Deutschen heute ihres aus der mittlerweile als Exportartikel dienenden Aufarbeitung der Vergangenheit. Aus dem Bekenntnis zur eigenen Scham ist das Recht erwachsen, »an anderen moralisch Maß zu nehmen,« bringt konkret es auf den Punkt.
Überlagert werden diese Tendenzen noch von der sogenannten Universalisierung des Holocaust. Damit ist gemeint, dass die Erinnerung an die Shoa über Deutschland und Europa (und natürlich Israel) hinaus zu einem weltweiten negativ-moralischen Bezugspunkt geworden ist. Sie steht für die Unmenschlichkeit des blutigen 20. Jahrhunderts schlechthin. Für die Deutschen bedeutet dies – je nach Standpunkt – Gefahr oder Erleichterung. Indem sie sich in eine globale konstituierende Erinnerungsgemeinschaft einfügen können, entledigen sie sich der Mühe »der schmerzhaften quellenbasierten Konkretisierung des Erinnerns« (Andreas Wirsching) an die deutsche Geschichte und ihre Kontinuitäten.
Und schließlich korrespondieren diese Entwicklungen in der Erinnerungskultur mit einer, wie es die Historikerin Ulrike Jureit ausdrückt, opferidentifizierten Gedenkkultur. Darunter wird verstanden, dass sich aus der nachholenden richtigen und notwendigen Hinwendung zu den jüdischen Opfern ein Identifizierungswunsch mit denselben entwickelt habe. Durch das Mitfühlen und Mitleiden werden die Opfer zwar umarmt, die Täter und ihre Taten hingegen anonymisiert und pauschal verurteilt. »Eine solche Erinnerungskultur«, schreibt Jureit, »hat ihr beunruhigendes, ihr subversives Potential verloren«. Sie ist, um das Bonmot von Gerhard Schröder aufzugreifen, ein Ort, an den man gerne geht. Die Geschichtswissenschaftlerin warnt sogar vor dem Paradox, dass die deutsche Erinnerungskultur dazu tendiert, zu einer Vergessenskultur zu werden – eben weil sie zwanghaft erinnert.
Zurück zu Dresden: Im Mythos Dresden als idealer Projektionsfläche bündeln sich die skizzierten Tendenzen. Der deutsche Opferdiskurs fand hier schon immer sein Paradebeispiel. Nunmehr ist er aber nur noch mit dem – abstrakten – Hinweis auf die deutsche Täterschaft zu haben. Dazu beigetragen hat freilich neben der linken Gedenkkritik mehr noch die Notwendigkeit der Abgrenzung von den Gedenkmärschen der Neonazis bzw. von der »Instrumentalisierung des Gedenkens« durch extremistische Gruppierungen (worunter auch jene linken Antifagruppen verstanden werden, deren Insistieren auf den gemeinsamen Kern des Gedenkens von Nazis und bürgerlicher Mitte – das Gedenken deutscher Opfer – letztere zur Korrekturen drängte). Die Universalisierung des Holocaust bzw. des Nationalsozialismus findet ihren Ausdruck z.B. in dem Dresdener Plakat zum 60. Jahrestag der Luftangriffe. Dort wird die Elbmetropole in einer Reihe mit Bagdad, Sarajewo, Coventry, Leningrad, Grosny und Hiroshima aufgeführt. Die Botschaft ist klar: Krieg ist böse und moralisch zu verurteilen. In Kauf genommen wird jedoch, dass historische Kausalitäten in einem 20. Jahrhundert von Krieg, Leid und Zerstörung eingeebnet werden. Die damit verknüpfte Empathie und Identifizierung mit den Opfern verstärkt diese Tendenz und lässt die Frage nach den historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen im Nebel.
So wichtig die Mobilisierung gegen Naziaufmärsche in Dresden ist, linke Gedenkkritik auf der Höhe der Zeit muss den Wandlungen der deutschen Erinnerungskultur Rechnung tragen und die Dresdener Feierlichkeiten am 13. Februar als das kritisieren, was sie sind: eine nationale Selbstbeweihräucherungsveranstaltung.
(aus: Dresden Speciale 2012)