Enzo Traverso, Moderne und Gewalt, Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, ISP-Verlag, Köln 2003, 160 Seiten, 15,00 Euro.
In der Einleitung seines neuen Buches „Moderne und Gewalt – zur europäischen Genealogie des Nazi-Terrors“ beschreibt Enzo Traverso das Paradox, dass Auschwitz zwar ins westliche Gedächtnis gerückt sei – ein Beispiel in der wissenschaftlichen Diskussion ist das von Levy und Sznaider herausgegebene Buch „Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust“ – gleichzeitig jedoch eine Verdrängung der europäischen Wurzeln des Nationalsozialismus zu konstatieren sei. Dies empfindet Traverso als beunruhigend und gefährlich (13). Anhand der Interpretationen des Holocaust von Nolte, Furet und Goldhagen zeigt Traverso, dass man den Nationalsozialismus nicht auf die Ablehnung der politischen Moderne und auf die Gegenaufklärung reduzieren kann: „Seine Weltsicht enthielt auch eine Idee von Wissenschaft und Technik, die nichts Archaisches an sich hatte und zahlreiche Kontaktpunkte mit der europäischen liberalen Kultur des 19. Jahrhunderts aufweist.“ (21)
Traverso stellt sich insofern die Aufgabe, die Verankerung „des Nationalsozialismus, seiner Gewalt und seiner Massenmorde, in der Geschichte des Okzidents, im Europa des industriellen Kapitalismus, des Kolonialismus, des Imperialismus, des Aufschwungs der modernen Wissenschaften und der Technik, im Europa der Eugenik, des Sozialdarwinismus, kurzum im Europa des ‚langen’ 19. Jahrhunderts, das auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu Ende ging“, aufzuzeigen. In der Tradition Hannah Arendts ist das Ziel Traversos nicht, die Ursachen der Kulmination der Gewalt in der Moderne zu bestimmen, sondern deren Ursprünge aufzuzeigen. Mit Ursprüngen sind jene Elemente gemeint, die für ein geschichtliches Phänomen erst dann konstitutiv wurden, als sie sich in ihm kondensiert und herauskristallisiert hatten (22). Er möchte die Elemente des zivilisatorischen Kontextes, zu dem das Verbrechen gehört, aufgreifen, Elemente, die es beleuchten und, retrospektiv betrachtet, zu seinen „Ursprüngen“ wurden. Nicht nur methodologisch, sondern auch inhaltlich schließt er sich Arendts Thesen von den Verbindungslinien zwischen Nationalsozialismus und Rassismus und dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts an. Als weitere wesentliche Quelle werden die Schriften Edward Saids genannt, der die Funktion der Kolonien, die er als einen Raum erfundenen und zusammenphantasierten Andersseins bestimmt, in der Legitimation westlicher Gesellschaften sieht.
Traverso argumentiert auf zwei Ebenen: einer materiellen und einer ideologischen. Zur ersteren zählt er die Modernisierung und Serialisierung der technischen Gegebenheiten der Tötung. Die Gaskammern und die Verbrennungsöfen, so der Autor, stellten den Endpunkt eines langen Prozesses der Entmenschlichung und der Industrialisierung des Todes dar, in dem die instrumentelle Rationalität sowohl der Produktion wie der Administration der modernen westlichen Welt (die Fabrik, die Bürokratie, das Gefängnis) Eingang gefunden hat (24f).
Auf der ideologischen Ebene behandelt Traverso die Fabrizierung von rassistischen und antisemitischen Stereotypen, die aus angeblich wissenschaftlichen Erkenntnissen der Jahrhundertwende schöpfen konnten. Ein besonderes Augenmerk legt er auf den Aufschwung des „Klassenrassismus“, der Eugenik sowie eines neuen um den Intellektuellen zentrierten, als Metapher für eine Krankheit am Gesellschaftskörper dienenden Bilds der Juden und Jüdinnen.
In den entsprechenden Kapiteln legt Traverso seine Argumentation ausführlicher dar. Diese Ausführungen, für sich betrachtet, sind nicht allzu neu. Man findet sie wie gesagt bei Arendt und Said, aber auch bei Max Weber, Adorno/Horkheimer sowie bei Zygmunt Bauman. Der neue Aspekt, den Traverso in seinem Essay hinzufügt, ist die Synthese aus diesen materiellen wie ideologischen Elementen und ihrer Genealogie. Herauszuheben sind auch die Kapitel über den Ersten Weltkrieg, in welchem eine neue Ethik und eine neue Mentalität herausgebildet wurden, „ohne die die Massaker des Zweiten Weltkriegs nicht verstanden werden können“ (88), und den Kolonialismus sowie Imperialismus der europäischen Staaten.
Traversos zentrale Thesen ähneln denen von Bauman, die dieser in der „Dialektik der Ordnung – Die Moderne und der Holocaust“ ausführte. Demnach ist der Holocaust als modernes Phänomen zu sehen, dessen Erklärung innerhalb des Kontextes moderner kultureller Tendenzen und technischer Entwicklungen zu suchen sei. Die Begründung ist bei Traverso jedoch differenzierter und fundierter, da er in einem weit größeren Ausmaß ideologische Elemente wie Rassismus, Eugenik, Antisemitismus und Mentalität berücksichtigt. Dennoch muss kritisiert werden, dass sein Schwerpunkt vornehmlich auf der rationalen und technologischen Organisation von Gewalt in den Todeslagern liegt. Die Tatsache, dass Millionen Menschen nicht in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vernichtet wurden, sondern durch Erschießungen, Massaker und Todesmärsche, wird übergangen. Insofern ist auch seine Definition der Singularität der Judenvernichtung zweifelhaft, wonach „der Judenmord kein Ausbruch einer bestialischen und primitiven Gewalt [war], sondern eine dank eines geplanten industriellen Systems ‚ohne Hass’ vorgenommene Massentötung. Es war ein von einer Minderheit von Architekten des Verbrechens geschaffenes Räderwerk, welches von einer Masse von manchmal eifrigen, manchmal unbewussten oder ohne ‚Verantwortungsgefühl’ in der schweigenden Indifferenz der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung, mit der Komplizenschaft von Europa und der westlichen Welt, die passiv blieben, handelnden Exekutoren betrieben wurde.“ (19) An anderer Stelle wird die Singularität jedoch mit der biologischen Umzüchtung der Menschheit bestimmt, die keinen instrumentellen Charakter hatte, sondern ein Ziel an sich war (vgl. 8).
Eine ähnliche Unstimmigkeit ist auch bei der Charakterisierung des Nationalsozialismus zu finden: Einmal wird die Singularität in dem regenerierenden Antisemitismus gesehen, dessen Endpunkt unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges ein breit angelegtes Völkermordunternehmen war (149), und dann in der Fähigkeit des Nationalsozialismus, eine Synthese aus den verschiedenen Formen der Gewalt gefunden, die der westlichen Zivilisation inhärent seien (152).
Im Unterschied zu Adorno und Horkheimer, die eine durch die instrumentelle Vernunft vermittelte zwingende Verbindungslinie von westlicher bürgerlicher Gesellschaft zum deutschen Faschismus und zum Faschismus allgemein ziehen, sieht Traverso wie auch Bauman das Verhältnis von westlicher Moderne bzw. industriellem Kapitalismus und Nationalsozialismus anders. Für Traverso ist Auschwitz nicht das endlich entschleierte tiefere Wesen des Westens, die Studie zeige aber, „dass es eines ihrer möglichen Produkte und in diesem Sinn einer ihrer legitimen Söhne ist“ (152), die Gaskammern der Nazis haben das Zerstörungspotential der Zivilisation aufgezeigt (7). Aber die Genealogie – so betont Traverso – darf nicht teleologisch verstanden werden. Der Nationalsozialismus habe im Sinne Robert Chartiers geistige und kulturelle Ursprünge gehabt, seine eigene Geschichte findet sich darin jedoch nicht eingeschlossen (154).
An Traversos Essay ist weiterhin der offensichtlich synonyme Gebrauch der Begriffe „Westen“, Zivilisation“, „Moderne“, „liberales Europa“ sowie „Industriegesellschaft“ und „Kapitalismus“ zu kritisieren. Hier hätte man sich eine Differenzierung gewünscht; denn so bleiben Unklarheiten bestehen. Gibt es Unterschiede zwischen „Moderne“, „Zivilisation“ bzw. „Westen“? Was genau ist mit Moderne und den anderen Begriffen gemeint? Wäre nicht eine Differenzierung des Begriffs der Moderne angebracht, die eine politisch-rechtliche und eine ökonomisch-industrielle Moderne unterscheidet. Hilfreich wäre der Vorschlag von Max Weber, nicht einfach von der Moderne, sondern von dem modernen Staat oder dem modernen Kapitalismus zu sprechen. Zudem wird das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus in dem Essay nicht näher bestimmt.
Es bleibt die Frage, ob Traverso mit seiner Argumentation, die Ursprünge des Nationalsozialismus in der westlichen Moderne zu verorten, nicht die spezifische Verantwortung Deutschlands zu gering schätzt und die deutsche Geschichte somit entlastet. Dazu ist zu sagen, dass Traverso sehr wohl den spezifischen Kontext der deutschen Geschichte erwähnt (vgl. 124, 149ff), sein Hauptaugenmerk aber auf dem europäischen liegt. Der Nationalsozialismus in Deutschland habe die dem allgemein europäischen Kontext entstammenden Motive (Rassismus, Antisemitismus, Eugenik, Antikommunismus) und die Mittel (Krieg, Eroberung, industrielle Vernichtung) auf originäre Weise synthetisiert. Einen deutschen Sonderweg – und das ist sicherlich eine kontroverse These – könne man daraus aber nicht ableiten (150).
Traversos Beunruhigung über die Vernachlässigung der europäischen Wurzeln des Nationalsozialismus ist verständlich. Denn nichts schließe aus, dass andere Synthesen, die genauso oder vielleicht noch zerstörerischer sind, sich in der Zukunft herauskristallisieren können“ (154). „Sowohl die Atombombe wie die Vernichtungslager der Nazis gehören zum ‚Prozess der Zivilisation, in dem sie keine Gegentendenz oder Verirrung darstellen, sondern Ausdruck einer ihrer Möglichkeiten, eines ihrer Gesichter, ein in ihr mögliches Abgleiten sind.“
Enzo Traversos Essay stellt somit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis von Nationalsozialismus und Moderne und darüber hinaus zum Zerstörungspotential der kapitalistischen Zivilisation überhaupt dar.
(aus: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 59, September 2004)