Jochen Hellbeck, Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2012, 608 S., 26,00 Euro
Unlängst fragte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler J. Bradford DeLong unter der Überschrift Was wir Stalingrad schuldig sind: »Aber wie viele NATO-Führer oder Präsidenten und Premierminister der Europäischen Union haben sich jemals die Zeit genommen, das Schlachtfeld zu besuchen und vielleicht für diejenigen einen Kranz niederzulegen, deren Opfer ihre Zivilisation gerettet haben?«
Diese Frage ist berechtigt. Sie verdeutlicht, dass das europäische Gedenken an Nazi-Faschismus und Weltkrieg auch heute noch durch den Kalten Krieg und Antikommunismus geprägt ist. Für die Bundesrepublik gilt dies insbesondere.
Während die Erinnerung an die Ermordung der Juden längst inoffizielle Staatsräson geworden ist und auch der ermordeten Sinti und Roma mit der Einweihung eines Mahnmals vor kurzem in Berlin endlich gedacht wird, kann davon im Hinblick auf die zahlenmäßig größte Opfergruppe des deutschen Faschismus nicht die Rede sein. 20 bis 25 Millionen Tote hatte allein die Sowjetunion zu beklagen – fast die Hälfte aller Toten des Zweiten Weltkrieges.
Wenn man in Deutschland indes an Stalingrad denkt, so fallen einem vornehmlich die leidenden, eingeschlossenen Soldaten der 6. Armee ein. Weniger bekannt ist, dass die Opfer auf sowjetischer Seite die deutschen bei Weitem überstiegen. Rund eine halbe bis eine Million Rotarmisten fielen bei Stalingrad; die Zahl der gestorbenen Zivilisten ist bis heute unbekannt. Auf deutscher Seite betrug die Zahl der Opfer »nur« 295 000. In das antikommunistische Gedenken mischt sich zudem ein weiterer Faktor: Die Angehörigen der Roten Armee seien durch den brutalen sowjetischen Geheimdienst auf Befehl Stalins ohne Rücksicht auf Verluste zum Verteidigungskampf gezwungen worden.
Die Chance, diese Perspektive anlässlich der vor 70 Jahren tobenden Schlacht um Stalingrad zu modifizieren, stehen nicht schlecht. Denn das soeben erschienene Buch »Die Stalingrad-Protokolle« des in den USA lehrenden deutschen Historikers Jochen Hellbeck stellt die »zutiefst germanozentrische« Perspektive und die insulare Sicht »eines deutschen Opferganges« infrage.
Als Quellenmaterial dienen Hellbeck Interviews, die sowjetische Historiker während und unmittelbar nach den Stalingrader Kampfgeschehnissen mit Kommandeuren, Soldaten, Kommissaren, Scharfschützen und Sanitäterinnen geführt hatten, die dann jedoch in den Archiven verschwanden – und jetzt erstmals von Hellbeck systematisch ausgewertet worden sind. Vor allem mit einer »schiefen«, herkömmlichen Ansicht räumt er auf: mit dem Bild der Roten Armee als einer unterdrückten Armee und ihrer Angehörigen als terrorisierte Individuen (oder als verführte Opfer) – eine Perspektive übrigens, die zuletzt auch Jörg Baberowski in seiner viel beachteten Studie »Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt« einnahm.
In dieser charakterisierte jener das Stalinsche Herrschaftssystem als im Krieg auf seinem Höhepunkt angelangt. Nur weil der Terror der Deutschen noch schlimmer als jener von Stalin ausgehende gewesen sei, habe die Sowjetunion, so Baberowski, den Angriff der Deutschen zurückschlagen können. Mit Hellbeck kann diese Sichtweise nun in Zweifel gezogen werden.
Der Hass auf die Deutschen angesichts ihres Vernichtungskrieges wird in den Interviews am häufigsten als Hauptmotivation der Kampfbereitschaft genannt. Der Autor konzediert freilich: »Die Partei war in der Armee allgegenwärtig – als institutionelles Netz, in der Gestalt von politischen Führungsoffizieren und in Form von inhaltlichen Appellen.« Und weiter: »Bis hinunter zur Ebene von Kompanien durchdrang der Parteiapparat die Armee, schickte die Partei ihre Emissäre – Kommissare, Politruks, Agitatoren, Partei- und Komsomolsekretäre – in die Schützengräben, wo sie predigten, anspornten, nötigten, beruhigten, seelsorgten, erklärten, Sinn stifteten.« In diesem Zusammenhang weist Hellbeck aber die (auch von Baberowski unkritisch übernommene) Zahl von 13 500 erschossenen sowjetischen Soldaten wegen Desertion und Feigheit allein bei Stalingrad als nicht gesichert zurück. Tatsächlich seien nach neuesten Quellen zwischen dem 1. August und dem 15. Oktober 1942 »lediglich« 278 sowjetische Soldaten von Sonderabteilungen des NKWD erschossen worden.
Die von Hellbeck ausgewerteten Interviews stützen diese niedrigeren Angaben. Natürlich verschweigt der Autor nicht die berüchtigten Stalin-Befehle Nr. 227 und 270, die drakonische Maßnahmen für Soldaten mit mangelnder Kampfbereitschaft samt deren Angehörigen vorsahen. Hellbeck hält auch das bisher angenomme Ausmaß der Stalinschen »Säuberungen« in der Roten Armee für überschätzt.
Dieses Buch zeichnet ein beeindruckendes Bild der Schlacht von Stalingrad aus Sicht der sowjetischen Verteidiger (und bisweilen aus der der deutschen Angreifer). Die Charakterisierung der Roten Armee als einer »dezidiert kommunistischen Armee«, deren Angehörige sozialistische Werte verinnerlicht hatten und sich als bewusste Akteure im Kampf des Sozialismus gegen den Kapitalismus/Faschismus sahen, steht in der (post-)revisionistischen Tradition der Historiografie über die Sowjetunion. In Abgrenzung zur Totalitarismustheorie (mit Fokus auf Terror und Zwang) rückt sie konsensuelle Motive in den Vordergrund. Ob Hellbeck dabei das Verhältnis von Zwang und Konsens angemessen bestimmt, ist sicher diskussionswürdig.
Der Verdienst der »Stalingrad-Protokolle« ist aber unbestritten. Sie verdeutlichen, was – in den Worten von DeLong – die Schlacht von Stalingrad zu jener machte, »die unter allen Schlachten der Geschichte die stärkste positive Auswirkung auf die Menschheit hatte«.
(aus: Neues Deutschland, 31.1.2013)