Auf der letzten Station ihrer Afrikareise, die am 7. Oktober in Liberia zu Ende ging, bekam Angela Merkel als Zeichen besonderer Zuneigung ein lebendes weißes Huhn überreicht. Ein schönes Bild, welches möglicherweise der Öffentlichkeit im Gedächtnis bleiben wird. Denn ansonsten war außer so wohlklingenden wie vagen Absichtserklärungen, etwa zur Entschuldung des Landes, wenig zu vermelden. Nicht mal ein verbaler Lapsus, wie ihn sich 1962 Bundespräsident Lübke geleistet haben soll, als er die Liberianer/innen mit „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger“ anredete.
Doch das Bild der besorgten Kanzlerin, die zum wiederholten Male die G8 und die EU an die Einhaltung ihrer Entwicklungshilfeversprechen für Afrika gemahnte und eine „echte Partnerschaft“ zwischen der internationalen Gemeinschaft und dem schwarzen Kontinent forderte, ist wenig mehr als Balsam für das massenmediale Publikum. Jenseits der gefühligen Berichte sieht es anders aus: Dort laufen – von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt – seit dem Scheitern der WTO-Gespräche in Cancún 2003 bilaterale Verhandlungen zwischen der EU und 78 Staaten in Afrika, der Karibik und der Pazifik-Region (AKP-Staaten) über sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (Economic Partnership Agreements, EPAs). Von einer „Partnerschaft auf Augenhöhe“, von der Merkel sprach, kann dabei keine Rede sein. Im Gegenteil: Allein die enorme volkswirtschaftliche Überlegenheit der EU im Vergleich zu ihren jeweiligen Verhandlungspartnern deutet schon auf eine Übervorteilung durch die EU hin. Im übrigen hat, wenn die Staaten Afrikas nicht so wollen, wie die Europäer es gern hätten, die EU ein wirksames Druckmittel zur Hand: Kürzung der Entwicklungshilfe und Erschwerung des Marktzugangs für die Exportprodukte der betreffenden Länder.
Ziel der EPAs, die eine Art regionaler Freihandelsabkommen sind, ist es, sogenannte reziproke Handelsabkommen zu schaffen. Die AKP-Staaten wären nach Abschluß verpflichtet, ihre Märkte für europäische Produkte, Investitionen und Dienstleistungen zu öffnen. Die Konsequenzen? Kurz und knapp: zunehmende Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit, Informalisierung, Landflucht in die Städte etc. Denn die massiv subventionierten Agrarprodukte der EU werden infolge der EPAs die Märkte der „Partner“-Länder überfluten und damit deren Märkte zerstören.
Zu diesem Ergebnis ist selbst eine von der EU finanzierte Studie gekommen. In ihr heißt es, daß die Freihandelsabkommen „den Zusammenbruch des modernen verarbeitenden Sektors in Westafrika beschleunigen“ sowie „die Entwicklung der Verarbeitungs- und Produktionskapazitäten in den AKP-Ländern in exportorientierten und anderen Industrien behindern könnten“. Des Weiteren steht zu befürchten, daß die Staaten durch das Zollverbot für Importgüter einen bedeutsamen Teil ihrer Einnahmen verlieren werden – in Uganda und Sierra Leone machen Zölle 50 Prozent der gesamten Steuereinnahmen aus! Der Staatspräsident von Benin prophezeite vor dem Europäischen Parlament, daß sein Land durch ein Verbot von Zöllen 20 Prozent seiner Staatseinnahmen verlieren werde. Die Folge: Investitionen im Sozialbereich müßten gestrichen werden.
Eine Delegation des Europa-Ausschusses der Französischen Nationalversammlung hat die negativen Auswirkungen der Freihandelsabkommen in einer Aufzählung von vier „Schockwellen“ zusammengefaßt: Zu erwarten sei erstens der Haushaltsschock infolge der Einnahmeverluste wegen der wegfallenden Importzölle; die zweite Schockwelle würde durch die fixierten Wechselkursanpassungen ausgelöst werden und negative Konsequenzen auf die Preise der einheimischen Produkte, auf Einkommen und auf soziale Dienstleistungen haben; eine dritte Schockwelle würde die im Aufbau befindlichen Industriesektoren der AKP-Staaten massiv schädigen, weil diese der Konkurrenz aus der EU nicht gewachsen sind. Schließlich würde die Landwirtschaft von einer Schockwelle getroffen werden, die zum Verschwinden der Subsistenzwirtschaft beitragen würde.
Bereits heute gibt es vielfältige Erfahrungen mit Freihandelspraktiken in Afrika. Ein Betroffener schildert sie so: „Ich komme aus einem kleinen Fischerdorf in Ghana. Meine Familie hat ihren Lebensunterhalt mit der Fischerei verdient, aber die Fischerei ist unmöglich geworden, seitdem größere europäische Fischereiflotten gekommen sind und unsere Meere leergefischt haben. Ähnliches ist bei Geflügel passiert. Importe von tiefgekühlten Hähnchenflügeln aus der EU haben den lokalen Markt zerstört.“
Und wie verhält sich die Bundesregierung zu den EPAs? Nach dem bekannten Muster: rhetorisch konziliant, in der Sache hart. EPAs in ihrer jetzigen Form als WTO-kompatible reziproke Freihandelsabkommen seien das beste Entwicklungsinstrument für die AKP-Staaten, heißt es in einer Erklärung vom November 2006. Damit vertritt Merkel eine liberalisierungsfreundlichere Politik als die britische Regierung, die eine verhaltene Kritik an den EPA-Verhandlungen übte. Ganz zu schweigen von der genannten französischen Delegation, deren harsche Kritik in der Forderung mündete, der EU-Kommission das Mandat über die EPA-Verhandlungen zu entziehen.
Die Befürchtung des Africa Trade Networks, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, ist also nicht unbegründet, daß die EPAs noch weitaus gravierendere Folgen zeitigen werden als die berüchtigten Strukturanpassungsprogramme der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und die Abkommen der Welthandelsorganisation. Was das bedeutet, läßt sich in Mike Davis‘ Buch Planet der Slums (2007) nachlesen. Eindrucksvoll schildert Davis, wie unter anderem wegen der Strukturanpassungsprogramme massive Migrationsbewegungen in die afrikanischen Städte ausgelöst wurden, die mit herkömmlicher Stadtentwicklung nichts mehr zu tun haben. Es wachsen in der „Dritten Welt“ Städte ohne industrielle Entwicklung, in denen sich, vorsichtig geschätzt, bereits eine Milliarde Menschen im informellen Sektor tagtäglich als Straßenhändler, Tagelöhner, Kindermädchen, Prostituierte oder als Händler ihrer eigenen Organe durchzuschlagen versuchen. Sarkastisch merkt Davis an, die Umwandlung öffentlicher Toiletten in Mautstellen zur Abzahlung von Auslandsschulden gehöre zu den großen Errungenschaften des Neoliberalismus.
Die EPAs sollen ab 2008 in Kraft treten. Wer weiß, ob die Bundeskanzlerin bei ihrem nächsten Besuch in Liberia noch einmal ein Huhn überreicht bekommt. Sei es, weil sich die dortige Regierung den Protesten gegen die EPAs angeschlossen hat oder weil die lokale Geflügelproduktion bis dahin durch die tiefgekühlte europäische Ausschußware zerstört ist.
(aus: konkret 11/2007)