Robert Misik hat ein Buch über das linke Denken geschrieben – doch es hat Lücken
Treffen sich zwei Planeten, sagt der eine: Hey, wie geht’s? – Nicht so gut, ich habe Menschen. – Mach dir nichts draus, das geht vorbei. Dieser Witz taucht nicht in Robert Misiks neuem Buch »Was Linke denken« auf. Das ist nicht weiter schlimm. Doch was in Misiks Buch fehlt, ist das Thema, welches diesem Witz zugrunde liegt: die Ökologie. Und das ist durchaus problematisch. Denn wenn Linke die ökologische Frage nicht mitdenken – dann ist etwas falsch an ihrem Denken. Nun wird bedauerlicherweise nicht klar, ob Misik der Ansicht ist, dass sein »Durchschnittslinker« sich nicht für ökologische Fragen interessiert oder es der Autor selbst ist. Der österreichische linke Publizist und Autor gibt darüber keine Auskunft.
Sehr wohl erläutert er hingegen eine zweite überraschende Einsicht über das linke Denken: dass in ihm Ökonomie kaum eine Rolle spielt. Sein Argument: Über Alternativen zum Kapitalismus redet im Gegensatz zu Marx, Luxemburg oder Mandel niemand mehr. Wenn sich Linke zur Wirtschaft äußern, dann stünden sie in den Fußstapfen des Ökonomen Keynes. Überhaupt interessierten sich Linke kaum für makroökonomische Fragen oder fänden sie zu schwierig. Da ist durchaus etwas dran – mit zwei Einschränkungen. Dass das tagespolitische oder reformorientierte wirtschaftliche Denken der Linken, sich eher an Keynes als an Marx orientiert, stimmt. Gleichwohl finden sich im linken Denken noch viele »Ablagerungen« von dem, was Marx in seiner Kritik der Politischen Ökonomie entwickelt hat – aber eher dann, wenn es theoretischer und grundsätzlicher wird oder wenn man sich das Denken von radikalen Linken anschaut (die Misik wenig beachtet). Zweitens wäre es ja interessant zu wissen, warum Linke Misik zufolge kaum noch darüber nachdenken, wie der Kapitalismus durch eine andere Ökonomie ersetzt werden könnte. Dass Misik dies lediglich feststellt, ist Ausdruck einer weiteren Leerstelle: Geschichtliches Denken im Allgemeinen und das über geschichtliche Erfahrungen einer Alternative zum Kapitalismus – Stichwort Realsozialismus – im Besonderen, spielt in seinem Buch keine Rolle. Ob es am Desinteresse der Linken oder an der des Autors liegt – auch darüber kann der Leser nur mutmaßen.
Nach den Lücken und der Kritik an »Was Linke denken« nun das Positive. Auch Misiks neuer Text ist selbst dann, wenn es um die theoretischen Elaborate französischer linker Philosophen oder um Postkolonialismus und Postmoderne geht, verständlich und gut zu lesen – ohne zu sehr zu vereinfachen. Wissenssoziologischer Ausgangspunkt ist ein Zitat des italienischen Marxisten und Kommunisten Antonio Gramsci: »Jede philosophische Strömung hinterlässt eine Ablagerung von ›Alltagsverstand‹; diese ist das Zeugnis ihrer historischen Leistung.« Den Sickerprozess vom Theoretiker zum Alltagsverstand beschreibt Misik so: »Eine kluge Person – oder eine Gruppe von Theoretikern und Theoretikerinnen – entwickelt eine philosophische Analyse; eine kleine Gruppe philosophisch oder gesellschaftskritisch interessierter Leser eignet sich diese Analyse an; sie übernimmt sie entweder vollends oder Bruchstücke davon, kombiniert sie möglicherweise mit Versatzstücken anderer Theorien; sie verbreitet sich im allgemeinen an intellektuellen Fragestellungen interessierten Milieu; sie findet Eingang in Medien, in Leitartikeln oder die Essayistik; sie wird erst gelegentlich, dann immer häufiger aufgegriffen, sei es in öffentlichen Diskussionen, in Kneipengesprächen oder anderswo.«
Mit dieser Folie durchstreift Misik die Theoriegeschichte der Linken. Begriffe wie Entfremdung, Hegemonie, Zivilgesellschaft Revolution, Reform, Individualismus oder Macht diskutiert er anhand der Theoretiker, die diese Begriffe prägten. So werden zum Beispiel Gramsci, Foucault, Adorno, Habermas und Butler behandelt. Und stets klopft Misik diese Theorien daraufhin ab, was von ihnen in heutigen Lesekreisen oder linken Kneipengesprächen Eingang gefunden hat. Überzeugend ist seine differenzierende Argumentation. So zeigt er in einem Kapitel auf, warum wir heute alle irgendwie Marxisten sind – und doch wieder nicht. Wir sind Marxisten, weil einige der Marxschen Grundpostulate Allgemeingut geworden sind. Ein Beispiel: Heute, so Misik, sei nicht nur jedem Linken klar, dass Ideen nicht im Wolkenkuckusheim entstünden, sondern auf dem Humus der gesellschaftlichen Verhältnisse wachsen. Das ist jedoch nichts anderes als der Marxsche Satz, wonach das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Auch Gedanken von Marx zur Entfremdung, den Widersprüchen der kapitalistischen Ökonomie oder der Wirkungsweise von Ideologien seien längst über die Sozialwissenschaften hinaus in breiten Bevölkerungsschichten präsent. Wenngleich häufig in einer Art »Marxismus des dummen Kerls«, wie Misik formuliert. Er meint damit simple, unvermittelte Ansichten wie zum Beispiel, dass Ideen immer nur vorgeschoben seien und Herrschende sich dominierende Meinungen einfach kaufen könnten. Das Fazit des Österreichers: »Wir können heute gar nicht mehr nicht Marxisten sein – wir können es bloß auf klügere oder dümmere Weise sein.«
Warum die Linken indes keine Marxisten sind – das verdeutlicht Misik anhand des zurückgetretenen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis. Dieser sei sich nicht mehr sicher, ob es das Ziel der Linken sein sollte, den Kapitalismus zu zerstören. Vielmehr sei es wohl ratsamer, den Kapitalismus zu retten bzw. ihn mit sozialstaatlichen Reformen zu stabilisieren. Der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus, das für Marx zentrale Ziel einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft, sei heute nur noch in Schwundformen der Linken zu finden, so der Autor.
Damit mag Misik recht haben. Hoffen wir also, dass Außenseiter, die das linke Denken in der Vergangenheit oft in Schwung gebracht haben, dies auch in Zukunft tun. Eine erste Aufgabe: den eingangs erwähnten Witz ideologiekritisch unter die Lupe nehmen und deutlich machen, dass nicht der Mensch an sich, sondern der in kapitalistische Produktionsweisen eingebundene für die Übernutzung des Planeten verantwortlich ist.
Robert Misik, Was Linke denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co. Picus Verlag. 159 S., geb., 14,90 Euro.
aus: neues deutschland, 23.09.2009