Der vom UN-Sicherheitsrat mandatierte Luftkrieg gegen den vom zuverlässigen Öllieferanten und Verbündeten des Westens im Kampf gegen Migranten»ströme« zum Diktatoren und »Schlächter seines Volkes« mutierten Gaddafi bringt auch das Argumentationsgerüst mancher Linker ins Wanken. Kann man gegen einen Krieg Position beziehen, der im Gegensatz zum Irakkrieg 2003 in Einklang mit dem Völkerrecht steht und zudem noch humanitär begründet wird?
Dass insbesondere die Grünen und SPD damit keine Probleme haben, hatten sie ja bereits im NATO-Luftkrieg um das Kosovo gegen Jugoslawien 1999 bewiesen. Und dass auch Daniel Cohn-Bendit und manch ein taz-Kommentator gegenwärtig am liebsten selbst ein Kampfflugzeug über Libyen steuern würde, ist ihren Stellungnahmen und Texte implizit zu entnehmen.
Im Jahr 2000 – ein Jahr nach dem Kosovo-Krieg – veröffentlichte die FAZ – selbstredend im Feuilleton – einen bemerkenswerten Aufsatz des viel zu früh verstorbenen Hamburger Friedensforschers Dieters S. Lutz unter dem Titel »Krieg nach Gefühl«, der die Begründung des Kosovo-Krieges auf empirisch gesicherter Basis kritisierte.
Das war mit der Auftakt für eine ganze Reihe von Artikeln und Büchern, die den so genannten Kosovo-Krieg kritisierten. Leider vergeblich. Denn noch heute wird wie damals von der geplanten systematischen Vertreibung der Kosovo-Albaner fabuliert (vgl. den Kommentar Regierungsoffizielle Lügen). In ihrer Ausgabe vom 22.3.2010 veröffentlichte die »Zeitung für Deutschland« einen Artikel des ebenfalls in Hamburg lehrenden Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Reinhard Merkel, dessen Bedeutung mit dem von Dieter S. Lutz vergleichbar ist.
Überschrieben ist der Text mit »Der libysche Aufstand gegen Gaddafi ist illegitim«. Das ist etwas irreführend. Zwar wird auch das begründet, wichtiger allerdings ist die Kritik der normativen Legitimation des Luftkrieges trotz Sicherheitsratsbeschluss. Da der Beitrag (noch) nicht online zugänglich ist, sei er hier etwas ausführlicher referiert.
Der Eingangssatz lautet: »Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats vom 17. März, die den Weg zur militärischen Intervention in Libyen freigab, und Maß und Ziel dieser Intervention selbst überschreiten die Grenzen des Rechts. Nicht einfach nur die Grenzen positiver Normen – das geschieht im Völkerrecht oft und gehört zum Motor seiner Entwicklung. Sondern die seiner Fundamente: der Prinzipien, auf denen jedes Recht zwischen den Staaten beruht.« Reinhard Merkel begründet dies damit, dass strenger, wie das die UN-Resolution tut, zwischen zwei Prinzipien unterschieden werden müsse: der Verhinderung schwerer völkerrechtlicher Verbrechen und die gewaltsame Parteinahme zur Entscheidung eines Bürgerkriegs.
Und er erinnert daran, dass »das Ziel, einen Tyrannen zu stürzen und bewaffneten Aufständischen dabei zu helfen«, kein »legitimer Titel zur gewaltsamen Intervention dritter Staaten« ist. Nach einem Verweis auf die völlig unklaren politischen Ziele der Aufständischen führt Merkel aus, dass seit 2003 die Schwierigkeiten eines »demokratischen State-Building ohne historisches Fundament und nach einem extern erzwungenen Regimewechsel« bekannt sind. Normativ bedeute dies für das Völkerrecht Folgendes: »Ein Ziel, das nicht oder doch nicht in akzeptabler Weise erreichbar ist, taugt als legitimierender Grund von vornherein nicht. Der demokratische Interventionismus, propagiert 2003, als sich die irakischen Massenvernichtungswaffen als Lüge erwiesen, und jetzt in der euphemistischen Maske einer Pflicht zur kriegerischen Hilfe im Freiheitskampf wiedererstanden, ist politisch, ethisch und völkerrechtlich eine Missgeburt.«
Den Einwand, dass die Resolution des UN-Sicherheitsrats den Regime-Change ja gar nicht als Ziel formuliert habe, entkräftet Merkel völlig zu Recht damit, dass in England und Amerika sofort nach Beginn des Krieges geäußert wurde, ohne den Sturz Gaddafis sei die Situation nicht zu bereinigen. Eine Einschätzung, die von den offensichtlichen Bemühungen, Gaddafi durch Bombardierungen umzubringen, auch durch die Kriegspraxis unterstützt wird. Der Schutz der Zivilbevölkerung sei somit nicht viel mehr als eine rhetorische Geste an die Adresse des Völkerrechts. Denn wenn es den Interventionisten tatsächlich darum geht, hätte man die Aufforderung, die Gewalt einzustellen, an beide Bürgerkriegspartien richten müssen. Und ergänzen ließe sich, dass Verhandlungsangebote von z.B. Chavez – dem Gaddafi zustimmte, nicht aber die Rebellen – oder die Vermittlungsbemühungen einiger lateinamerikanischer Staaten unter Führung von Brasilien hätten ernst genommen werden müssen.
Die Frage, ob zum Schutze der Zivilbevölkerung gegen einen anderen Staat Krieg geführt werden dürfe, beantwortet Reinhard Merkel so: »Ja, in Extremfällen darf man das – wenn sich nur so ein Völkermord oder systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern lassen, wie sie Artikel 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs beschreibt.« Doch weder Völkermord noch systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit könne man Gaddafi vorwerfen. Und der Rechtsphilosoph betont, dass man sich gerade hier nicht den Blick durch irreführende Phrasen trüben lassen dürfe: »Wer aus noch so berechtigter Empörung über die Brutalität militärischer Gewalt ihr mit dem Siegel ›Völkermord‹ oder ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ die Affinität zu deren Urbildern bescheinigt: den Massenmorden der Nationalsozialisten, sollte bedenken, was das bedeutet: den Zugriff auf die fundamentalen Normen der Weltordnung. Denn solche Verbrechen erlauben den Krieg, das dritte der schwersten Menschheitsübel und ihrer trostlosen Geschichte. Wer so fahrlässig wie die Regierungen der Intervenienten, viele westliche Medien und leider auch die Resolution des Sicherheitsrates mit solchen Zuschreibungen umgeht, tastet die Grundnorm des Völkerrechts und damit dieses selbst an: das Gewaltverbot zwischen den Staaten.«
Entgegen den medialen, tausendmal wiederholten Formeln wie »Der Diktator führt Krieg gegen seine eigene Bevölkerung, massakriert die Zivilbevölkerung seines Landes« etc. lautet Merkels nüchtern-realistische Einschätzung des Geschehens in Libyen, dass es dafür keine Belege gibt, sondern Gaddafi Krieg gegen bewaffnete Rebellen führt, die ihrerseits Krieg gegen ihn führen (eine ähnliche Einschätzung übrigens, zu der Dieter S. Lutz in Bezug auf den Kosovo-Konflikt kam). »Und jeder nach außen legitimierte, also autonome Staat der Welt, darf – in bestimmten Grenzen – bewaffnete innere Aufstände zunächst einmal bekämpfen.«
Der FAZ-Autor, der das Despotenregime Gaddafis nach innen hin, also der eigenen Bevölkerung gegenüber, als zu keinem Zeitpunkt legitim charakterisiert, hält indes fest, dass die Legitimität nach außen unbestreitbar sei. Dafür spreche z.B. die Mitgliedschaft Libyens in der UN, wirksame internationale Verträge etc. Diese Legitimität nach außen verliere ein Staat erst dann, wenn es die besagten Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord begehe. »Wer aber militärisch gegen militärisch agierende Rebellen vorgeht, tut und wird dies nicht.« Und weiter heißt es: »Kollaterale Opfer unter Zivilisten, die das in kommunalen ›Rebellenhochburgen‹ unausweichlich mit sich bringt, ändern daran nichts. Dies werden, so bitter das ist, in den nächsten Tagen die kollateralen Opfer der Intervenienten in vermutlich nicht geringerer Zahl zur quälenden Anschaulichkeit bringen.«
Zum Schluss seines Textes legt Merkel dar, warum seiner Ansicht nach das Recht auf gewaltsamen Widerstand gegen Gaddafi, obwohl er dessen Regime als zunehmend widerwärtig charakterisiert, nicht gerechtfertigt ist: »Dass der Widerstand dagegen das Recht zu einer Form gehabt hätte, die zahllosen Unbeteiligten, Frauen und Kinder eingeschlossen, den Tod aufzwingen musste, darf man mit Gründen bezweifeln.« Daher sei der ägyptische und tunesische Weg nicht nur klüger, sondern auch moralisch besser und wohl auch erfolgreicher gewesen.
Merkels »trostloses« Fazit lautet: »Die Intervention der Alliierten, so berechtigt ihr Schutzanliegen ist, steht auf brüchigem normativen Boden. Die politische Ziellosigkeit des Unternehmens ist dabei das geringere Übel. Es geht um weit mehr als die pragmatisch beste Lösung eines einzelnen Konflikts: um die Garantie des Gewaltverbots und seiner vernünftigen Grenzen als Grundprinzip der Weltordnung. Der Krieg wird diese Grenzen weiter ins machtpolitisch Disponible verschieben. So berechtigt seine humanitären Ziele sind: Die Beschädigung der Fundamente des Völkerrechts decken sie nicht.«
Soweit, so gut. Doch eine Linke, die sich nicht an der »humanitären Nase« in – sagen wir ruhig – imperialistische Kriege ziehen lassen will, sollte jenseits der zwar richtigen Kritik an der völkerrechtlichen Legitimität, über eine rechtspositivistische Position hinausgehen. Will heißen, die Vereinten Nationen als ein Institutionengefüge zu beschreiben, welches nicht im luftleeren Raum agiert, sondern von den führenden kapitalistischen Ländern und ihrer Machtpolitik massiv beeinflusst wird. Und natürlich muss es darum gehen, die Interessen hinter der angeblichen humanitären Begründung aufzuzeigen, zu kritisieren, um so die doppelten Standards des Westens entlarven zu können, worauf auch der Völkerrechtler Norman Paech in einem Interview im Neuen Deutschland hingewiesen hat. Warum, um nur ein Beispiel zu nennen, kann Saudi-Arabien mit seiner Armee mit offenkundiger Billigung der USA in den Nachbarstaat Bahrain zur Niederschlagung der Proteste einmarschieren, ohne das es einen Aufschrei in der hiesigen Presse gibt?
(aus: www.sozialismus.de)