Die Ereignisse in den Maghreb-Staaten und Nordafrika halten die Welt weiter in Atem. Zu Recht – denn das ist gegenwärtig vordringlich – liegt der Fokus dabei auf den politischen Auseinandersetzungen und im Falle Libyens auf den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen sowie dem Luftkrieg der westlichen Staaten. In dieser Wahrnehmung geht jedoch unter, dass auch soziale und polit-ökonomische Ursachen für die Dynamik der Proteste vorhanden waren – und noch sind. Diese Faktoren entscheiden perspektivisch darüber, ob Länder wie Ägypten, Tunesien und ggf. Libyen überhaupt Spielräume für eine alternative sozial-ökonomische Entwicklung im Rahmen einer neoliberalen Weltwirtschaftsordnung haben, deren Prinzipien durch die Finanz- und Weltwirtschaftskrise allenfalls angekratzt sind. Das indes wäre eine Voraussetzung dafür, eine gerechtere Einkommensverteilung und die bessere Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse zu erreichen. Zu diesen Bedürfnissen gehört zuvörderst die ausreichende Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln. Vor dem Hintergrund, dass in den wenig entwickelten Staaten der Erde die Hälfte bis zu 80 bis 90% der Einkünfte nur für Nahrungsmittel ausgegeben werden, während es in den entwickelten kapitalistischen Staaten lediglich ca. 10 bis 15% sind, ist dies ein existenzielles Problem. Das wurde den Nachrichtenzuschauern in der Ersten Welt vor rund drei Jahren erneut schlagartig bewusst, als die Welt von so genannten Hungeraufständen erschüttert wurde, die zum Teil sogar zu Regierungsstürzen führten. Und so waren ebenso bei den Protesten in Tunesien und Ägypten im Januar und Februar drastische Preissteigerungen von Nahrungsmitteln ein Faktor, der die Menschen auf die Straße trieb.
Im ersten Monat dieses Jahres etwa waren die Preise für Nahrungsmittel auf einem Niveau, das sogar noch über dem von 2008 lag. Auch andere Rohstoffpreise sind infolge der arabischen Rebellionen in die Höhe geschossen. Das gilt insbesondere für das Rohöl. Schon warnt Nouriel Roubini, einer der wenigen Ökonomen, die den Finanzcrash von 2008 vorhersagten, vor der Gefahr einer Stagflation infolge der arabischen Revolten, die insbesondere durch einen Ölpreisschock hervorgerufen werden könnte.
Als Gründe für die plötzlichen und drastischen Preissteigerungen wurden vor drei Jahren viele genannt: die Verwendung von Mais, Zuckerrohr und Weizen für Biokraftstoffe (»Tank statt Teller«), der Hunger der chinesischen und indischen Mittelschichten auf höherwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Wetterkapriolen, niedrige Lagerbestände, eine wachsende Weltbevölkerung, Wassermangel, Desertifikation, ein hoher Rohölpreis und Spekulation auf den Agrarrohstoffmärkten. Jeder dieser Faktoren spielte und spielt eine Rolle, doch eine reine Aufzählung sagt noch nichts über die Gewichtung aus – und vor allem muss unterschieden werden, welche Faktoren für die langfristige Preisentwicklung der Märkte und welche für die in kurzer Zeit extrem schwankenden Preise verantwortlich sind. Überdies muss die Erklärung für die Preissteigerungen von Rohstoffen zusammengedacht werden mit einem finanzialisierten Modus kapitalistischer Akkumulation, der in den Jahren 2007-2009 in seine bislang schwerste Krise geraten ist.
Extreme Preisschwankungen und ihre Ursachen
Die globale Hungerkrise von 2008, die zu einer Zunahme der hungernden Menschen auf der Welt auf über eine Milliarde führte, hat Wissenschaftler und Institutionen zu vielfältiger Forschung über die Ursachen angeregt. Das China-Argument entlarvt sich dabei, wenn man insbesondere die kurzfristige Preisvolatilität betrachtet, als Ausdruck der Angst der führenden kapitalistischen Staaten vor einem aufstrebenden Konkurrenten. Denn wie will erklärt werden, dass die Nachfrage aus China (und Indien) die Preise im Frühjahr 2008 auf einen Höchststand klettern ließ, um sie kurz darauf wieder in den Keller fallen zu lassen? Auch langfristig wird das Argument der steigenden Nachfrage durch Schwellenländer infrage gestellt. So schreiben die Wissenschaftler Brümmer u.a. (2008: 656) in ihrer Untersuchung über den Weltgetreidemarkt, dass zum einen in China der Weizenverbrauch seit einigen Jahren stagniere und zum anderen China den Rückgang der Weizenproduktion, der vornehmlich durch einen Rückgang der Anbaufläche entstanden sei, durch Abbau der Lagerbestände ausgeglichen habe. Wörtlich heißt es: »Die Vergangenheit hat gezeigt, dass China stets bemüht war, die Importe von Weizen gering zu halten. Gleiches gilt für Reis.« Zwar importiere China zunehmend Futtergetreide, aber die Menge sei vergleichsweise unbedeutend. Ähnliches halten die Agrarwissenschaftler für Indien fest (vgl. auch Feyder 2010: 44f.)
Ebenso wird die Verwendung von Weizen, Mais und Zuckerrohr für die Produktion von Biokraftstoffen, zumindest in Hinblick auf die kurzfristigen Volatilitäten, relativiert. »Bereits die derzeitige Produktion an Biotreibstoffen zieht erhebliche Mengen an Getreide und um Ackerflächen konkurrierende Produkte von den Märkten ab«. Insofern nehmen Brümmer u.a. zwar an, dass die Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen Einfluss auf die Preisentwicklung des Weizenmarktes nimmt, indes: Die Preisexplosion von 2008 ist damit nicht zu erklären. Ähnlich sieht es Olivier De Schutter, UN-Sonderbeauftragter für das Recht auf Ernährung. Die Förderung von Bioethanol und andere Nachfrageschocks seien relativ unbedeutende Katalysatoren gewesen, die jedoch eine gigantische Spekulationsblase in einer angespannten und zunehmend verzweifelten globalisierten Finanzwelt in Gang setzten (Schutter 2010: 3). In dieselbe Richtung argumentiert ein Report der britischen Entwicklungsorganisation »World Development Movement« (2010: 21f.): Die Nachfrage nach Biokraftstoffen sei anhaltend hoch geblieben, doch die Preise fielen Mitte des Jahres 2008, um dann wieder anzusteigen. Für die starken Preisschwankungen kann der Faktor Biokraftstoffe also vernachlässigt werden. Der Report zieht des Weiteren das Lieblingsargument von Marktwirtschaftlern in Zweifel: dass nämlich Angebot und Nachfrage für die Preisgestaltung verantwortlich sind. Wenn dem aber so sei, wie ist dann die folgende globale Entwicklung der Getreide- und Weizenproduktion von 2006 bis 2008 zu erklären? Die Getreideproduktion fiel im Jahr 2006 um 1,3%, während sie 2007 um 4,7% wuchs. Der Rückgang der Weizenproduktion 2006 war mit 4,5% höher, dem ein Anstieg um knapp 2% im darauffolgenden Jahr folgte. 2008 stieg die Produktion von Weizen um 14%. Offensichtlich ist, dass diese Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Getreidevorräte eine Erklärung für die schrittweise Erhöhung der Preise in 2006 und 2007 anbieten. Aber sie können nicht die großen Schwankungen der Getreidepreise in den Jahren 2007 und 2008 im Vergleich zu 2006 erklären.
Diese drei Studien (wie auch weitere) führen als wichtigsten Faktor für die extremen Preisschwankungen in kurzer Frist somit die Rolle von spekulativ ausgerichtetem Kapital an. Das gilt im Übrigen auch für den Rohölpreis, der sich parallel zur Entwicklung der Nahrungsmittelpreise verhält und einen großen Einfluss auf diese hat – durch Vorprodukte wie Dünger, zu deren Produktion auch Öl benötigt wird, oder durch Transportkosten. Im April 2010 gab es eine Umfrage unter Banken, Händlern und Ölfirmen. Das Ergebnis: 70% nannten als Grund für den steigenden Ölpreis die Spekulation.
Spekulation auf den Agrarrohstoffmärkten
Die Studien führen überzeugende Belege für die Rolle der Spekulation ins Feld. Wie sehen diese im Einzelnen aus? Zunächst: Spekulation mit Nahrungsmitteln gibt es schon lange (vgl. zum Folgenden World Development Movement 2010: 8f.). Im 19. Jahrhundert wurden die so genannten Futures in den USA erfunden. Future-Verträge ermöglichen es Farmern, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft für einen garantierten Preis ihre Ernte zu verkaufen. Das ist für sie von Vorteil, weil sie so eine feste kalkulatorische Grundlage haben. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Markt durch Finanzanleger interessant, denen es nicht um den Erwerb von Rohstoffen ging, sondern darum, Future-Kontrakte zu kaufen, um sie dann mit einer Gewinnmarge wieder zu verkaufen. Die Aktivitäten dieser Anleger schlugen sich auf den tatsächlichen Preis der Rohstoffe nieder: Die Volatilität stieg an.
Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929ff. wurden die Preisschwankungen infolge des massiven Zuwachses des Handels mit Future-Kontrakten im Rahmen der New-Deal-Reformen der Roosevelt-Regierung unterbunden – z.B. durch Position Limits. Darunter versteht man die Höchstzahl von gehaltenen Futures- und Futures-Optionskontrakten. Gesetze, die dieses zum Ziel hatten, waren der Securities Act von 1933, der Securities Exchange Act von 1934 und der Commoditiy Exchange Act von 1936. Diese Regulierungsvorschriften hatten über Jahrzehnte bis in die 1990er und 2000er Jahre bestand. Ähnlich wie mit dem Siegeszug des Neoliberalismus ab Ende der 1970er Jahre Regulierungen für andere Märkte abgeschafft wurden, erfolgte dies, wenngleich später, mit den Rohstoffmärkten. In den 1990er Jahren startete die Investmentbank Goldman Sachs eine erfolgreiche Lobbyarbeit, die nicht nur die Regulierungen aus den 1930er Jahren aufhob, sondern auch die Zulassung für weitaus kompliziertere Future-Kontrakte erreichte. Die Anzahl von Rohstoff-Derivaten nahm rapide zu. Im Jahr 1991 wurden auch die Rohstoff-Indexfonds erschaffen. Diese Indexfonds bestehen aus einem Portfolio aus oft 20 verschiedensten Anlagen in Rohstoffen wie Gold, Öl, Kupfer, Weizen etc. Eine Besonderheit dieser Indexfonds ist, dass sie im Vergleich zu den Future-Kontrakten nicht an den großen Rohstoffbörsen, z.B. in Chicago, gehandelt werden, und damit keiner Kontrolle unterliegen. Man nennt diesen außerbörslichen Handel »over the counter« (OTC). Neben Goldman Sachs sind die größten Banken mit Indexfonds die Bank of America, Citybank, Deutsche Bank, HSBC, Morgan Stanley und JP Morgen. Durch diese Anlagemöglichkeit verschafften sich zudem institutionelle Investoren wie Pensionsfonds, Hedgefonds etc. Zugang zu den Rohstoffmärkten.
Wie viel spekulatives Kapital auf diesem Wege auf die Rohstoffmärkte floss, darüber gibt es nur Schätzungen, eben weil ein Großteil der Derivate, Annahmen zufolge 85-90% (IATP 2008: 6) außerbörslich gehandelt wird. Es wird für wahrscheinlich gehalten, dass sich die Anzahl der Rohstoff-Derivate in den Jahren zwischen 2002 und 2008 um mehr als verfünft- bis versechsfacht hat. Bevor die Lehman Brothers-Bank im September 2008 bankrottging und die globale Finanzkrise auslöste, veröffentlichte sie noch eine Studie, die die Zunahme des Volumens der Indexfonds-Spekulation zwischen 2003 und dem März 2008 auf 1900% schätzte (vgl. Schutter 2010: 3). Der US-Ökonom Timothy A. Wise (2011) nennt folgende Zahlen: »Auf einen Betrag von 9 Billionen Dollar beläuft sich der Handel mit Rohstoffderivaten. Davon sind 80-90% außerbörslicher Handel… Fünf Banken kontrollieren 96% des Derivategeschäfts; somit haben einige wenige Akteure entscheidende Marktmacht. Das Verhältnis von nichtkommerziellen Spekulanten zu kommerziellem Hedging (also diejenigen, die ein kommerzielles Interesse an den gehandelten Rohstoffen haben) liegt schätzungsweise bei 4:1.« Es liegt mithin eine Umkehrung des Verhältnisses von vor zehn Jahren vor, als Spekulanten 20% der Aktivität ausmachten.
Dass die Agrarrohstoffpreise zu einem erheblichen Anteil spekulativ überzeichnet sind, geben die Akteure der Finanzmärkte auch offen zu. Ein Hedgefonds-Manager sagte zu Beginn des Preisbooms 2008: »Da strömt gerade so viel Geld auf die Rohstoffmärkte, dass es völlig egal ist, was die so genannten Fundamentals aussagen.« Und der Altmeister der Spekulation George Soros meinte: »Jede Spekulation ist auch in der Realität verwurzelt…, doch Spekulanten erschaffen die Blase, die über allem liegt. Ihre Erwartungen, ihr Glücksspiel auf Futures helfen, die Preise hochzutreiben, ihr Geschäft verzerrt die Preise, was besonders auch für Rohstoffe gilt. Es ist wie das Horten von Lebensmittel inmitten einer Hungersnot, nur um Gewinne aus steigenden Preisen zu erzielen. Das sollte nicht möglich sein.«
Hinzu kommt, dass die dominierenden Indexfonds oft nur zu höchstens einem Drittel aus Agrarrohstoffen bestehen. Beim größten Fonds, dem S&P Goldman Sachs Commodity Index, der einen Marktanteil von 64% hat, sind es nur 10% im Verhältnis zu 75% Energierohstoffe. Das heißt Wise zufolge, dass die Indexfonds vom Ölpreis getrieben werden, »ganz gleich, wie es sich mit Angebot und Nachfrage für Soja oder Mais verhält.« Dennoch wird die Rolle der spekulationsgetriebenen Preise nicht nur etwa von EU-Institutionen, bürgerlichen Zeitungen und Wissenschaftlern, sondern auch von kritischen Ökonomen wie Paul Krugman bestritten. Der Grund hierfür ist, dass der »over-the-Counter«-Handel nicht in die Untersuchungen miteinbezogen wird, doch macht gerade dieser wie gesagt einen großen Teil des Gesamthandels aus (IATP 2008: 8).
Finanzialisierter Kapitalismus und Rohstoffe
Die einseitige Schuldzuweisung an Spekulanten greift indessen zu kurz, wenn nicht ein Zusammenhang zwischen einem finanzialisierten, deregulierten und neoliberalen Kapitalismus hergestellt wird, der u.a. durch einen riesigen Überschuss an anlagesuchendem Kapital gekennzeichnet ist. Diese Überakkumulation von Kapital ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen sinkenden Investitionsquoten und steigenden Profiten trotz sinkender Lohnquoten. Kapital strömt infolgedessen mangels produktiver Anlagemöglichkeiten auf die Finanzmärkte. Wird dieses Problem und allgemein das der kapitalistischen Produktionsweise nicht mitgedacht, verharrt man auf dem Niveau bürgerlicher Kapitalismuskritik, wie sie derzeit der französische Präsident Nicolas Sarkozy betreibt, der seine G20-Präsidentschaft zur Eindämmung der Rohstoffspekulation nutzen möchte.
Drei Jahre nach der Kernschmelze des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus ist offenkundig, dass der Keynesianismus und die Re-Regulierungsabsichten der globalen Elite nicht viel mehr waren als Rhetorik. Schlimmer noch: Der Preis für die Rettungsmaßnahmen des Finanzsystems in Gestalt von Bankenrettungen, Flutung der Märkte mit Notenbankgeld und die Senkung des Zinsniveaus vergrößerte jene Probleme, »die für die besondere Tiefe der Krise verantwortlich waren: die Inflation der Vermögenswerte und Hypertrophie der Finanzmärkte« (Goldberg 2011: 35).
Das Problem des »Zuviels« an Liquidität auf den Finanzmärkten besteht demnach weiter fort; und es gilt auch für die Rohstoffmärkte, für die noch zweierlei hinzukommt: Zum einen ist dieser Markt relativ klein etwa im Vergleich zum Aktienmarkt. Bereits mit relativ wenig Kapital, der Rohstoff-Analyst der Commerzbank nennt die Summe von einer Milliarde Dollar, kann man Einfluss auf die Preisentwicklung nehmen (FAZ, 19.3.2011). Zum anderen gelten Rohstoffe als Ausweichanlagemöglichkeit, wenn in anderen Märkten eine Blase geplatzt ist. Denn Rohstoffe wie Kupfer, Öl oder Weizen und Mais werden immer benötigt, weil sie zur Produktion industrielle Waren und zur Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse notwendig sind. So lässt sich nachweisen, wie mit der Immobilienkrise in den USA ab 2007 zunehmend Kapital aus diesem Markt in die Rohstoffmärkte umgeschichtet wurde. Als die Lehman Brothers Bank implodierte und die Panik im Finanzsystem ausbrach, wurde dann aus allen Märkten Kapital abgezogen, was auch den vorübergehenden Fall der Agrarrohstoffpreise in der zweiten Jahreshälfte von 2008 erklärt.
Neoliberale Exportorientierung
Doch nicht nur der Zusammenhang von spekulationsgetriebenen Preisen und dem Modus finanzkapitalistischer Akkumulation sollte berücksichtigt werden, sondern überdies die neoliberale Umstrukturierung der agrarischen Produktionsstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten. Erst das Zusammenspiel dieser Faktoren ist verantwortlich für die rasante Zunahme der Hungernden weltweit. Der luxemburgische Diplomat Jean Feyder (2010: 65ff.), der auch Präsident der UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) war, hat in seinem im Herbst letzten Jahres erschienenen Buch »Mordshunger« erneut auf diese Umstände verwiesen. Die berühmt-berüchtigten Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben dafür gesorgt, dass die landwirtschaftliche Produktion der Kleinbauern der Südhalbkugel einseitig auf den Export ausgerichtet wurde. Die von der globalen Elite vorangetriebene Liberalisierung des Welthandels schließt dabei immer auch die Beseitigung von Importquoten und die Senkung und Vereinheitlichung von Zöllen ein. Maßnahmen, die in vielfach gut dokumentierten Fällen zum Zusammenbruch des heimischen, für den Binnenmarkt produzierenden Fertigungssektors führten, während die erwünschte Belebung des Exports zumeist auf der Strecke blieb. Insbesondere für die landwirtschaftlichen Sektoren der wenig entwickelten Länder hatte das verheerende Konsequenzen, da ihre Binnenabsatzmärkte nun von der Ausschussware der führenden kapitalistischen Staaten überflutet wurden. Hier offenbart sich einmal mehr die Doppelmoral des Westens, weil die EU und die USA ihre agrarischen Sektoren und damit auch den Export von landwirtschaftlichen Waren subventionieren und sie entgegen ihrer Freihandelsrhetorik Einfuhrzölle erheben. Laut UNCTAD liegen die durchschnittlichen Zollsätze der entwickelten Länder bei 34%, während sie bei den Entwicklungsländern auf 25% geschätzt werden (ebd.: 72). Zu dieser Heuchelei gehört auch das mangelnde Wissen darüber, dass die entwickelten Länder diese Praxis historisch gesehen schon eine lange Zeit betreiben, und dies der Grund ist, warum sie sich durch Protektion ihrer Binnenmärkte, durch geplante staatliche Investitionen etc. überhaupt erst zu diesen haben entwickeln können (vgl. Chang 2007; Reinert 2007). Ihre Fortsetzung findet diese unehrliche Politik seitens der EU gegenwärtig in der so genannten Rohstoffinitiative. Ein wesentliches Element sind dabei die Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit den Entwicklungsländern. Die Nichtregierungsorganisation WEED (2010) hat in einem Report aufgezeigt, wie »die EU-Handels- und Rohstoffpolitik Entwicklung bedroht«.
Die Überflutung der Märkte des globalen Südens hatte verheerende Folgen: Im Gefolge dieser Prozesse, so wird vermutet, haben weltweit 20 bis 30 Millionen Menschen ihr Land verloren (McMichael 2007: 175) und fristen nun ihr Dasein in den Megaslums der Dritten Welt. Die Umstrukturierung des Agrarsektors der wenig entwickelten Staaten hin zu exportorientierten Cash Crops, also von Produkten, die überwiegend industriell mit hohem Einsatz von Dünger und anderen Vorprodukten für den globalen Welthandel angebaut werden, hat die Ernährungssouveränität vieler Länder untergraben. Sie wurden in vielen Fällen von Nahrungsmittelexporteuren zu -importeuren.
Diese neoliberale Strukturierung der agrarischen Produktionsverhältnisse ist für die spekulationsbedingten extremen Volatiliäten umso anfälliger; und dieses Zusammenspiel ist somit eine entscheidende Ursache für die Entstehung der globalen Hungerrevolten. Das lässt sich z.B. auch an Ägypten beobachten. Ray Bush (2010) zufolge führte Mubaraks Konterrevolution im Agrarbereich ab Ende der 1980er Jahre zu mehr ländlicher Armut und einer Stagnation der Produktivität, weil die redistributiven Reformen aus der Nasser-Ära zurückgenommen worden sind (vgl. dazu im Detail Gretel 2010).
Malthus irrte sich
Festzuhalten ist: Für die heftigen Preisschwankungen, die in den letzten Jahren zu verzeichnen waren, ist vornehmlich spekulatives Kapital verantwortlich. Langfristig spielen allerdings auch Fundamentals wie Veränderungen von Angebot und Nachfrage eine Rolle. Gegen die Anfälligkeiten der Agrarrohstoffmärkte für spekulatives Kapital kann etwas getan werden. Regulierungen, wie sie jahrzehntelang galten, könnten wieder eingeführt werden (entsprechende Initiativen, so von der G20, gibt es bereits). Allerdings werden damit die Möglichkeiten des anlagesuchenden Kapitals nur eingeschränkt, eine Korrektur des Missverhältnisses von Finanzkapital und investivem Kapital wird damit nicht erreicht. Maßnahmen, die das Problem an der Wurzel fassen, müssten auf die Dekommodifizierung, d.h. des Nicht-zur Ware-Werdens, gerade von im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendigen Produkten wie Weizen, Reis und Mais abzielen. Als Schritt dahin müsste insbesondere die Verkopplung von Regionen mit ganz unterschiedlichen Produktionsbedingungen durch den Weltmarkt unterbunden werden. Denn ein einziger Weltmarkt lässt die Preise enorm schwanken und führt dazu, dass besonders die Kleinbauern aufgrund von Volatilitäten Investitionen unterlassen und als Folge davon die Produktivität zurückbleibt. Doch der Fokus sollte nicht zu sehr auf Investitionen und Produktivität liegen. Zwar ist es richtig, dass die weltweit wachsende Weltbevölkerung auch ein »Mehr« an Nahrungsmitteln benötigt, allerdings ist dies mit dem industrialisierten Agrobusiness nicht zu schaffen. Sie geht mit teuren Investitionen in Maschinen, Saatgut und Dünger einher, treibt den Klimawandel an und ist anfällig gegenüber Klimaschwankungen. Vor allem hat sie die Kleinbauern nicht aus ihrer Not befreien können, einen Trickle-Down-Effekt gab es nicht. Im Gegenteil: Gerade mit einer nachhaltigen, ökologischen Landwirtschaft ist, wie Oliver De Schutter (2011) in einer Zusammenschau verschiedener Studien zeigt, innerhalb von fünf bis zehn Jahren eine Verdoppelung der Nahrungsmittel zu schaffen – und das nicht nur unter Einschluss des Schutzes von Kleinbauern, die derzeit vom so genannten Landgrabbing betroffen sind (vgl. Fritz 2010), sondern gerade basierend auf ihren traditionellen Anbaumethoden. Beispielprojekte in 57 Entwicklungsländern zeigten, dass mit nachhaltigem Bioanbau eine Ertragssteigerung von 80%, im afrikanischen Raum sogar von 116% möglich ist. Ob also der seit ein paar Jahren zu beobachtende Trend des Anstiegs der Agrarrohstoffe und Lebensmittelpreise mit extremen kurzfristigen Schwankungen nach einer längeren Periode niedriger Preise seine Fortsetzung finden wird, ist kein Naturgesetz, sondern vielmehr ein Terrain sozialer Kämpfe, die sich in erster Linie gegen die globalen Agrokonzerne und ihre industrialisierte exportorientierte Landwirtschaft sowie gegen die Freihandelspolitik richten müssen (für die marxistische Theorie, den Kleinbauern nicht wohlgesonnen, ergeben sich hieraus neue Probleme, vgl. dazu Henninger 2010).
Seit ca. 200 Jahren macht das von Thomas Robert Malthus geprägte Argument die Runde, wonach die Produktion von Lebensmitteln nicht mit der wachsenden Bevölkerung Schritt halten kann. Ebenso lange wird diese Einschätzung stets aufs Neue widerlegt. Malthus hat Unrecht. Seine Verteidiger sprechen mit klarem Klassenstandpunkt: Nahrungsmittel sind Waren, die produziert werden, nicht um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Gewinne zu erzielen; existiert keine zahlungskräftige Nachfrage, so unterbleiben entsprechende Investitionen – ganz gleich, ob Menschen Hunger leiden.
Literatur
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Reinert, Erik S. (2007): How rich countries got rich… and why poor countries stay poor, London.
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Schutter, Olivier De (2010): Food Commodities Speculation and Food Price Crises. Regulation to reduce the risks of price volatility, Briefing Note 02 – September.
Schutter, Olivier De (2011): Agroecolgy and the Right to Food, www.srfood.org.
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(aus: Sozialismus 4/2011)