Folgender Satz aus der Süddeutschen Zeitung steht nur stellvertretend für viele bürgerliche Analysen zu der sich seit längerem abzeichnenden und nunmehr akuten Hungerkatastrophe am Horn von Afrika: „Ein derartiges Leiden schien im 21. Jahrhundert nicht mehr vorstellbar.“ Diese Aussage erstaunt einerseits. Andererseits bringt sie den im besten Falle hilflosen, im schlechteren Falle eurozentrischen Blick des Westens auf die von ihm mitverursachten Miseren in weiten Teilen der „Dritten Welt“ zum Ausdruck.
Der Satz irritiert, weil es nur etwas mehr drei Jahre her ist, als mehrere Staaten infolge von drastisch gestiegenen Lebensmittelpreisen von Hungeraufständen erschüttert wurden und das Thema für kurze Zeit – bis die Rettung des Finanzsystems wichtiger wurde – die Nachrichtenagenda (mit)bestimmte. Erstaunlich ist die Aussage auch, weil die Zahl der Hungernden infolge der weltweiten Wirtschaftskrise auf über eine Milliarde gestiegen ist. Ohne Zweifel ist das Ausmaß der derzeitigen Hungerkatastrophe vornehmlich in Somalia besonders schlimm. Doch die Bedrohung durch den Hungertod hat im 21. Jahrhundert für Millionen Menschen nie seinen Schrecken verloren.
Dass das so ist, ist im Grunde genommen das wirklich Verblüffende. Denn vom Stand der Technik und der Anbaumethoden gesehen könnten heute bereits, wie der Weltagrarbericht aus dem Jahr 2009 zeigte, zwölf Milliarden Menschen ernährt werden, viel mehr also als die derzeit knapp sieben Milliarden Erdenbewohner. Der Bericht hebt auch hervor, dass dies bei einer Umstellung auf eine kleinbäuerlich-ökologische Produktion noch leichter möglich wäre. Auch die Tatsache, dass in der Lebensmittelindustrie 120 bis 140% des Bedarfs produziert werden, sodass 20 bis 40% von vornherein als Abfall eingeplant sind, spricht für sich. Hunger ist somit ein Verteilungsproblem aufgrund fehlender zahlungskräftiger Nachfrage, es ist mitnichten ein Problem des Mangels.
Das indes bringen der Satz und der folgende Text aus der SZ nicht zum Ausdruck. In diesen ist hingegen viel von Naturkatastrophen, korrupten Diktatoren und islamistischen Milizen die Rede.
Konkret: Die gegenwärtige Hunterkatastrophe in Somalia, Äthiopien, Kenia und Dschibuti, von der 11,5 Millionen Menschen bedroht sind, wird ursächlich auf eine Dürreperiode zurückgeführt. Und das ist auch nicht in Abrede zu stellen: Das Gebiet am Horn von Afrika ist immer wieder von lang anhaltenden geringen bzw. ausbleibenden Niederschlägen betroffen. Die Frage allerdings ist, inwieweit die Dürren auch eine Folge des Klimawandels sind, der maßgeblich von den Industrienationen verursacht wird, dessen Betroffene aber in erster Linie die Länder der südlichen Hemisphäre sind. Darüber gibt es derzeit unterschiedliche Ansichten. Bernhard Pospischl vom Institut für Meteorologie der Universität Leipzig meint, dass in diesem Fall die „schlimmste Dürre seit 60 Jahren“ (UN) kein Vorbote des Klimawandels ist.
Doch abgesehen davon gilt es, sich die Erkenntnisse der marxistisch orientierten „politischen Ökologie des Hungers“ in Erinnerung zu rufen. Ihr prominentester Vertreter, Mike Davis, hat in seiner Studie „Die Geburt der Dritten Welt“ ausgeführt, dass Hunger, Klima und Naturkatastrophen keine essenziellen Kategorien, sondern stets in Bezug auf soziale und politische Verhältnisse zu analysieren sind. Demzufolge sind Hungermiseren soziale Krisen, die das Versagen spezifischer ökonomischer und sozialer Systeme widerspiegeln.
Nehmen wir das Beispiel Somalia: Welches ökonomische und soziale System hat hier versagt? Offenkundig ist, dass Somalia in der Sprache des Westens ein so genannter „failed state“ ist. Das heißt, dass die derzeitige international anerkannte Übergangsregierung defacto keine Macht ausübt und in diesem Machtvakuum die radikal-islamistischen Shabaab-Milizen ihr Unwesen treiben, indem sie z.B. die Hilfsaktionen der westlichen Wertegemeinschaft boykottieren. Doch zumeist wird der Anteil insbesondere der USA an dieser politischen Misere unterschlagen. Infolge von 9/11 geriet Somalia in den Fokus der selbst ernannten „Krieger gegen den Terrorismus“, weil das Land als Rückzugsgebiet für islamistische Terroristen galt. 2006 unterstützte die Bush-Regierung den Einmarsch ihres Verbündeten Äthiopiens in Somalia, in welchem die Union islamischer Gerichte die Kontrolle über die Hauptstadt Mogadischu und weite Teile des Landes übernommen hatte. Die Union der Gerichte hatte auf lokaler Ebene das Scharia-Recht durchgesetzt, andererseits aber auch in den besetzten Gebieten einen zwischenzeitlichen Frieden durchsetzen können.
Vor diesem Hintergrund spricht der Somalia-Experte und frühere Leiter der Afrika-Abteilung von Brot für die Welt, Helmut Hess, davon, dass die Hungerkatastrophe auch Folge einer falschen Politik des Westens gegenüber dem gescheiterten Staat Somalia sei: „Alle politischen Bemühungen des Westens haben zum genauen Gegenteil dessen geführt, was man erreichen wollte.“
Die verheerende Politik der westlichen Staaten zeigt sich auch an der Bekämpfung der somalischen Piraten. Solange EU-Fischereiflotten die Gewässer Somalias leerfischen und damit den Fischern ihre Lebensgrundlage nehmen, wird eine nicht vermeidbare Konsequenz sein, dass ein Teil der ehemaligen Fischer eben gezwungen ist, sich mit Piraterie den Lebensunterhalt zu verdienen. Die kann man zwar polizeilich und militärisch bekämpfen, aber an den Ursachen ändert das nichts.
An diesem Beispiel zeigt sich, was für die Politik der westlichen kapitalistischen Staaten insgesamt gilt: Ausgangspunkte ihrer Interventionen sind nie die Ursachen, sondern lediglich Erscheinungen derselben. So sind Hunger und Elend auch eine Folge der kapitalistischen Weltmarktlogik. Das verdeutlicht der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler, der die Finanzkrise und das daraus resultierende Umschwenken von Hedgefonds und anderen Großspekulanten auf die Agrarrohstoffbörsen mit verantwortlich für die Misere am Horn von Afrika macht. Mit Termingeschäften, Futures etc. treiben sie die Grundnahrungsmittelpreise in astronomische Höhen. Das Resultat: „Weder Äthiopien, noch Somalia, Djibouti oder Kenia konnten Nahrungsmittelvorräte anlegen – obschon die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war.“ Dazu komme, so Ziegler weiter, dass die Länder des Horns von Afrika von ihren Auslandsschulden erdrückt werden, sodass Geld für Infrastrukturinvestitionen fehle (SZ, 24.7.2011). In den hohen Nahrungsmittelpreisen sieht auch Weltbank-Präsident Robert Zoellick eine der Ursachen für das tragische Leiden am Horn von Afrika.
Ein weiterer Faktor ist das so genannnte Land Grabbing (Landraub), das zu Recht sogar von UN-Unterorganisationen als neokoloniale Praxis kritisiert wird. Auch dieses Phänomen steht mit der weltweiten Wirtschaftskrise von 2008/2009 in Zusammenhang. Nach dem Absturz der Immobilienpreise bot sich als alternative Anlagesphäre für das im Überfluss vorhandene Kapital der Erwerb von Landflächen für den exportorientierten Anbau von Nahrungsmitteln oder Bioethanolrohstoffen in Staaten des Südens an. In dem ebenfalls von der aktuellen Dürre betroffenen Äthiopien etwa – wo die Versorgung der Bevölkerung aufgrund des „intakteren“ Staates viel besser funktioniert – verhandelt die Regierung derzeit mit Unternehmen aus Italien, Malaysia und Südkorea über die langfristige Verpachtung von Ländereien im Südwesten des Landes. Knapp zehn Prozent des äthiopischen Landes befindet sich Schätzungen zufolge bereits in der Hand von internationalen Geldgebern (SZ, 30.7.2011). Infolgedessen wurde dort die Landwirtschaft umstrukturiert – weg von der kleinräumigen, hin zu großflächigen Anbaumethoden. Das Nachsehen haben hier wie woanders die lokalen Bevölkerungen, denen weniger Flächen zur Verfügung stehen oder die sogar von ihren Ländern vertrieben werden.
Doch nicht in erster Linie das Verramschen von Land ist „purer Zynismus“, wie die SZ schreibt, sondern vor allem die Inszenierung des Westens als Wohltäter, der nun Hilfslieferungen organisiert. Sicher ist diese Hilfe kurzfristig notwendig, um Menschenleben zur retten. Aber sie hilft eben nur bis zum nächsten Ausbruch einer erneuten, von „der strukturellen Gewalt des Kapitals“ (Ziegler) und des Weltmarktes, der lebensnotwendige Produkte nach dem Kriterium der Zahlungsfähigkeit und nicht nach dem des Bedarfs verteilt, mitverursachten Hungerkatastrophe. Und man sollte sich die beschämende Tatsache vor Augen halten, dass die bereits infolge der Hungerkrise von 2008 zugesagten finanziellen Beiträge nicht eingehalten wurden, wie die Professorin Jennifer Clapp von der Uni Waterloo darlegt.
Mike Davis schrieb in seiner die Zusammenhänge von Imperialismus, Wetter und Hunger aufzeigenden Studie, dass Millionen nicht außerhalb des ‚modernen Weltsystems’, sondern im Zuge des Prozesses starben, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. „Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus; viele wurden, (…), durch die dogmatische Anwendung der heiligen Prinzipien von Smith, Bentham und Mill ermordet.“
Eine Erkenntnis, die leider nicht nur für die Vergangenheit zutreffend ist.
(aus: www.sozialismus.de)