Beat Ringger, Maßt Euch an! Auf dem Weg zu einem offenen Sozialismus, Westfälisches Dampfboot, Münster 2011, 217 S., 24,90 Euro
Raul Zelik, Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken, VSA: Verlag, Hamburg 2011, 143 S., 12,80 Euro
Die große Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 hat weder den Kapitalismus infrage gestellt, noch war die Linke – ob reformistisch oder systemkritisch/revolutionär – in der Lage, von dieser zu profitieren. Allenfalls die neoliberale Ideologie scheint angekratzt, wobei jenseits von Rhetorik und kosmetischen Maßnahmen die Umverteilung zulasten von lohnabhängigen Klassen ihre Fortsetzung findet; die strukturelle Überakkumulation von (Finanz)Kapital ist mithin ungebrochen. Über die zahlreichen Gründe für die Schwäche der Linke wird diskutiert. Eine Ursache indes scheint auf der Hand zu liegen: Der antikapitalistischen Linken fehlt es angesichts des Scheiterns des sowjetischen Weges an einem positiven Beispiel eines funktionierenden demokratischen Sozialismusmodells, ja es fehlt an überzeugenden Diskussionen, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft überhaupt aussehen könnte. Begriffe wie Solidarische Ökonomie versuchen nur, dieses Vakuum zu füllen.
Dies und die Frage einer möglichen postkapitalistischen Produktionsweise sind die Ausgangspunkte zweier neuer anregender Bücher. Anregend deshalb, weil hier zwei Autoren schreiben, die der Beobachter der linken Theoriediskussionen bislang zu diesem Thema noch gar nicht oder nur am Rande zur Kenntnis genommen hatte. Der in Mexiko Politikwissenschaften lehrende Schriftsteller Raul Zelik ist eher für seine Romane und in zweiter Linie für seine politikwissenschaftlichen Analysen bekannt. In dem gleichfalls interessanten Interviewbuch »Vermessung der Utopie: Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft« beschränkte er sich auf die Rolle des Moderators und überließ Elmar Altvater das Wort. Der Schweizer Beat Ringger war Volksschullehrer, Trotzkist, Umweltaktivist, Maschinenmechaniker und Elektrotechniker, heute ist er Zentralsekretär der Schweizer Gewerkschaft der öffentlichen Dienste sowie Sekretär des sozialkritischen Think tanks »Denknetz«. Seine Schreibstil ist vielleicht auch deshalb wohltuend nichtakademisch. Ihm geht es weniger um das Zitieren und Referieren, sondern um die klare gedankliche Durchdringung und Entfaltung seiner Ausführungen. Dasselbe lässt sich von Zelik behaupten.
Ringgers „konstruktiver Imperativ“ – und gleichzeitig auch Buchtitel – „Maßt euch an!“ spielt auf eine Äußerung Friedrich August von Hayek, einem Vordenker des Neoliberalismus, an. Dieser hatte es als Anmaßung empfunden, über Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken, weil jenseits dieses Wirtschaftssystems „Der Weg zur Knechtschaft“ beschritten werde. Ringger wendet diese Äußerung positiv: Wir müssen uns anmaßen, den Kapitalismus zu überwinden. Doch sei der Weg zur Überwindung keineswegs vorherbestimmt, sondern offen – daher auch der Untertitel: „Auf dem Weg zu einem offenen Sozialismus“. Die Notwendigkeit einer postkapitalistischen Gesellschaft leitet er in zwei Kapiteln aus den Widersprüchlichkeiten der gegenwärtigen kapitalistischen Realität ab: In „Die Krise der gesellschaftlichen Investitionsfunktion“ arbeitet er heraus, wie „drei Trends – Rückgang der Rationalisierungspotentiale in der Güterfertigung, weitgehende Resistenz der personenbezogenen Dienstleistungen gegenüber Rationalisierungen, zunehmende Bedeutung von Wissen und Informationsverarbeitung – die kapitalistisch geprägte gesellschaftliche Investitionsfunktion in eine tiefe Krise ziehen.“ (37) Die Konsequenz: Das überschüssige Kapital weicht auf die Finanzmärkte aus und taumelt von Spekulationsblase zu Spekulationsblase. Insofern sei Helmut Schmidts bekanntes Mantra „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“ folgendermaßen abzuwandeln: „Die Gewinne von heute sind die Finanzblasen von morgen und die Wirtschaftskrisen von übermorgen.“ Im Abschnitt „Umweltschutz und Kapitalismus“ zeigt Ringger, dass es abwegig ist, beim Umweltschutz allein auf Marktmechanismen und Konsumentenmacht zu setzen. Vielmehr sei es notwendig, die Produzenten durch Vorschriften und Verbote in die Pflicht zu nehmen. So sei z.B. die Pflicht zur Einführung von Katalysatoren ein großer Erfolg gewesen.
Zelik hingegen geht in seiner Kritik stärker von der Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der verfestigten Überkapitalisierung und Überproduktion, der Ineffizienz des Kapitalismus sowie der sozialen Krise aus. Die Green New Deal-Konzepte kritisiert er, weil sie im Grunde Politikberatungskonzepte naiver Art sind, die von sozialen Kämpfen absehen und das gegenwärtige Konsum- und Produktionsmodell nicht infrage stellen. „Ungleiche, nicht-nachhaltige und imperiale Verhältnisse sollen ökologisch aufgehübscht werden, ohne die strukturellen Widersprüche zu berühren.“ (27)
In der Beurteilung des Realsozialismus, insbesondere des sowjetischen Weges und des Stalinismus, weisen Ringger und Zelik deutliche Parallelen auf: Als zentrale Ursache des Scheiterns sehen sie das Fehlen eines Demokratiekonzeptes bzw. die brutale Unterdrückung demokratischer Freiheiten an. Beide sind nicht so naiv, ihre Bewertung ohne Berücksichtigung des historischen Kontextes sowie der sozialen und materiellen Bedingungen zu entwickeln. Bei Zelik heißt es entsprechend: „Auch wenn nun selbstverständlich stimmt, dass soziale und demokratische Transformationsvorhaben – nicht nur Revolutionen, sondern auch Reformregierungen – in der Geschichte immer gewalttätig angegriffen wurden und alternative Projekte die Konfrontation somit von der Gegenseite aufgezwungen wurde, kann die Antwort offensichtlich nicht darin bestehen, sich einer autoritären, strukturell rechten Konfrontations-, Effizienz- und Kriegslogik unterzuordnen.“ (36) Das Kunststück emanzipatorischer Politik bestehe darin, sich in diesen Konflikten zu behaupten, ohne sich die Freund-Feind-Logik Carl Schmitts zu eigen zu machen. Und der Schweizer Gewerkschafter fasst es mit den Worten, dass die Konfrontation gewagt und gleichzeitig das Prinzip des Auge um Auge, Zahn und Zahn verabschiedet werden müsse (141). Zelik fügt der mangelnden Ausbildung von Demokratie trotz rätesozialistischer Rhetorik noch zwei weitere endogene Faktoren hinzu: das Fehlen eines alternativen Entwicklungs- und Arbeitsmodells sowie die Unfähigkeit, Konsumwünsche zu befriedigen (31).
Gegensätzliche Auffassungen vertreten die Autoren zur Frage der Notwendigkeit einer revolutionären Avantgarde. Während sich Zelik dazu nicht explizit äußert bzw. einen Avantgardeanspruch abzulehnen scheint („Wie lässt sich über gesellschaftliche Entwürfe sprechen, ohne eine Führungsperspektive einzunehmen?, S. 13), diskutiert Ringger dies recht ausführlich und kommt zu einer – wenn auch differenzierten – Bejahung des Avantgardeanspruchs. Ausgehend von der Notwendigkeit eines revolutionären Bruchs mit der bisherigen Gesellschaft argumentiert er, dass die Überschreitung der Grenzen des Kapitalismus ein zentrales Entscheidungs- und Handlungszentrum erfordere, welches in der Lage sei, die revolutionären Bewegungen und Aktionen zu koordinieren und zu fokussieren. Das und andere Sätze klingen nach Lenin, doch gegen die verbliebenen sich auf Lenin berufenden Parteien wird folgendes Argument vorgetragen: „Die revolutionäre Partei leninschen Zuschnitts ist in normalen Zeiten überbestimmt.“ Und die Fähigkeit, revolutionäre Prozesse anzuleiten, sei das Ergebnis eines realen Lernprozesses nicht das Resultat einer „richtigen Theorie“ und schon gar nicht eine Frage der Selbstdeklaration.
Das wichtigste Kapitel in Ringgers Buch ist das über die demokratische Bedarfswirtschaft. Im Gegensatz zum vorsichtigeren Zelik, der den Sozialismus negativ bestimmt – nämlich dadurch, was er nicht ist – legt der Schweizer die Zurückhaltung ab und wagt eine Skizze einer „Zukunftswirtschaft“, wie sie sein könnte. Wobei: Diese versteht er als zweierlei: als Teil einer postkapitalistischen Ökonomie, aber auch als Element im bestehenden Kapitalismus. So soll der Transformationscharakter betont werden. Methodisch schließt Ringger somit an das Konzept der „konkreten Utopie“ von Ernst Bloch an. Während Zelik in einem kurzen Kapitel auf die Blochschen Gedanken eingeht, führt Ringger diese gleichsam am Beispiel seiner Zukunftswirtschaft durch und verweist nur einleitend auf die Blochsche Unterscheidung von Kälte- und Wärmestrom im Marxismus. In den Worten von Zelik sind Utopien dann konkret, „wenn sie das Nach-Vorne-Weisende im Bestehenden entdecken und weiterführen“ bzw. wenn das im Existierenden angelegte Noch-Nicht-Gewordene hervorgehoben wird, ohne es zu überhöhen (16f.). Mit Ringger auf die ökonomischen Strukturen heruntergebrochen: Die Zukunftswirtschaft ist auch heute schon in fragmentierter Weise existent. Zum Beispiel in Form von Genossenschaften, Alternativbetrieben und Ökofirmen. Ihm zufolge ist die Zukunftswirtschaft durch Produktionsgemeinschaften gekennzeichnet, die sich z.B. eine oder mehrere der folgenden Aufgaben stellen: Entwicklung und Produktion nachhaltiger Güter und Dienstleistungen; Förderung gesellschaftlich wünschenswerter technischer, organisatorischer und kultureller Innovationen; Förderung benachteiligter Regionen und Länder; Erprobung neuer Formen der Zusammenarbeit und Arbeitsorganisation; Befriedigung von Bedürfnissen in einer der Allgemeinheit frei zugänglichen Weise (100). Vor allem betont Ringger die Notwendigkeit von offenen Patenten, da auf diese Weise die Produkte ihren Charakter als Waren verlieren.
Zum Thema Steuerung und Antrieb einer demokratischen Bedarfswirtschaft erachtet der Schweizer folgende Prinzipien als wichtig: Bedarfsorientierung, demokratische Steuerung, Selbstregulation, Kooperation vor Konkurrenz sowie auf gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtete Eigentumsformen an den Produktionsmitteln. Die Frage Plan oder Markt beantwortet er – wie auch Zelik – sehr ausgewogen. So differenziert er die Rolle des Marktes nach verschiedenen Produkten, Branchen und Bereichen. Im Softwaresektor werde der Markt keine Rolle spielen, im Bereich der Konsumgüter hingegen schon. Gegen eine Planwirtschaft – auch mit neuen computergestützten Berechnungsverfahren, wie sie die Schotten Cockshott/Cottrell in ihrem Buch „Alternativen aus dem Rechner“ (2006) darlegten – spreche: „Jeder Versuch, Planung mit bestmöglichen Berechnungsmethoden und optimalen Einsatz der Informatik zu perfektionieren, ohne dabei auf die Interessen, die Kreativität, das Engagement und die Intelligenz der Produzierenden und der Nutzenden abzustützen, führt jedoch tendenziell wieder zu Formen der Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit.“ Und Zelik argumentiert ebenfalls in Auseinandersetzung mit Cockshot/Cottrell, dass eine Planung die Ex-ante-Bestimmung von Produktions- und Arbeitsvorgängen impliziere. „Doch wie alle gesellschaftlichen Prozesse besitzt auch die Arbeit eine sich selbst organisierende, dezentrale und spontane Komponente. Wenn ökonomische Abläufe ex ante definiert werden, dann bedeutet eine dezentrale Veränderung potenziell eine Störung des Gesamtprozesses. Aus diesem Grund tendierten Planungsökonomien, die Produktionsabläufe ex ante bestimmen … zur Stagnation.“ (43) Zelik hält die Debatte von Markt versus Plan insofern für am Thema vorbeigehend. Das entscheidende Kriterium sei, ob eine Gesellschaft in die Lage versetzt wird, über ihre Arbeit und die Verteilung von Gütern und Ressourcen zu entscheiden, also ob sie über ihre Ökonomie zu verfügen beginnt.
Des Weiteren diskutieren sowohl Zelik als auch Ringger die Erfahrungen des Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika. Ringger stützt sich dabei in erster Linie auf Venezuela und sieht hier den ersten Versuch seit dem Fall der Berliner Mauer, die Macht des Kapitals zu brechen. Die Widersprüchlichkeiten sieht er sehr wohl, gleichwohl kommt er zu einer positiven Einschätzung. Zeliks Bewertung fällt weitaus nüchterner aus – vielleicht auch, weil er zusätzlich zu Venezuela die Entwicklungen in Ecuador und Bolivien untersucht.
Beide Autoren behandeln auch das Thema Komplexität bzw. den Einwand, dass diese der demokratischen Gestaltungsfähigkeit Grenzen aufzeige. Ringger argumentiert, dass Demokratie die breitest mögliche Wahrnehmung durch die gesellschaftlichen AkteurInnen mit der Beteiligung dieser AkteurInnen an den Entscheidungen und deren Umsetzung vereine und somit ein Optimum an Ressourcen mobilisieren könne. Vorausgesetzt natürlich, dass die Demokratie alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere das der Ökonomie, umfasse (190). Zelik geht das Problem mit Rekurs auf die französischen Philosophen Deleuze und Guattari an. Mit ihrem Konzept des Rhizoms meint er, das Problem der Komplexität der Gesellschaft denken zu können. Zeliks Ausführungen zu dieser Frage sind sicher die kontroversesten in seinem Buch. Ansonsten bestechen seine Ausführungen jedoch durch Prägnanz und Stringenz. Im Gegensatz zu Ringger, der verschiedene ältere Aufsätze zusammenfügt, gelegentliche Wiederholungen insofern unvermeidlich sind, ist es auch an einem Stück geschrieben. Sowohl Zelik als auch Ringgers Buch fassen jedes für sich bereits trefflich die wichtigsten Aspekte der Debatte um eine alternative Gesellschaft zum Kapitalismus. Parallel gelesen bieten sie sicher den besten Überblick über alle Facetten der Diskussion. Dass dabei dennoch Schwächen und Leerstellen bestehen bleiben, ist unbestritten. So wirkt Ringgers Betonung des revolutionären Bruchs verglichen mit seinen vergleichsweise defensiven Ausführungen zur demokratischen Bedarfswirtschaft unverbunden; seine Verwendung des Adjektivs „totalitär“ grenzt sich kaum vom totalitarismustheoretischen Mainstream ab. Und bei Zelik fragt man sich, wofür bei ihm die Begriffe Sozialismus/Communismus eigentlich genau stehen, werden sie doch überwiegend negativ in Abgrenzung zu anderen Phänomenen bestimmt. Andererseits zeugt dies auch von einer realistischen Einschätzung: „Eine andere Gesellschaft,“ so schreibt Zelik, „entsteht aus der Flucht vor der Differenz zu anderen Gesellschaftsformationen – und ist genau deshalb konkret: Sie geht nicht aus utopischen Blaupausen hervor, sondern aus den sozialen Praxen von vielen, die das Neue im Bestehenden vorwegnehmen.“ (14) Und Recht hat er in der Tat damit, dass der Communismus – verstanden „als umfassende, radikale Demokratisierung, als Aneignung der Gesellschaft durch sich selbst“ – die klügste und begehrenswerteste Option der Zukunft ist.
(aus: Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 87, September 2011)