Te-Nehisi Coates’ wütender Essay über die tödliche rassistische Gewalt in den Vereinigten Staaten
Dass der Text eines Journalisten einem Bewerber um das US-Präsidentschaftsamt zumindest indirekt eine Stellungnahme abnötigt, ist kein alltäglicher Vorgang. Dem Journalisten Te-Nehisi Coates ist das mit seiner Forderung nach Reparationen für die Versklavung und Diskriminierung der Afroamerikaner gelungen. Sein Essay «Plädoyer für Reparationen», 2014 im US-Magazin «The Atlantic» veröffentlicht, entfachte eine bereits ältere Debatte aufs Neue. Auch Bernie Sanders wurde nach seiner Meinung gefragt. Er lehne die Forderung nach Entschädigungszahlungen ab, sagte er in einem Interview. Das tun übrigens auch Hillary Clinton und Barack Obama.
Zusammen mit dem Essay «Zwischen mir und der Welt» ist Coates’ Reparations-Plädoyer nun auf Deutsch erschienen. In den USA stand das Buch wochenlang auf Platz 1 der «New York Times»-Bestenliste. Der Text, eine Mischung aus Autobiografie, Essay und Analyse, ist einer der krassen Widersprüche: Auf der einen Seite brechen Knochen, zerreißen Muskeln, werden Atemwege blockiert und Hirne erschüttert. Auf der anderen Seite wird am Memorial Day im hübschen Vorgarten gegrillt, werden Baumhäuser gebaut und es riecht nach Pfefferminz und Erdbeerkuchen.
Die eine Seite – das sind die Ghettos von Baltimore, Los Angeles oder Chicago, bewohnt von den Nachfahren der als Sklaven in die neue Welt verschleppten Afrikaner. Die andere Seite, das sind die Suburbs des weißen, wohlhabenden Amerikas. Beides hängt miteinander zusammen, ökononmisch-politisch wie auch individuell für den Autor. Der Reichtum der Vereinigten Staate beruht auf Plünderung und Gewalt; die Sklavengesellschaft schuf überdies das wirtschaftliche Fundament für die US-amerikanische Demokratie. Dem jungen Coates flimmern die Vorstadtbotschaften ins Wohnzimmer. Er sieht im Fernsehen «goldblonde Jungs mit ihren Spielzeuglastern und Footballkarten spielen und bekommt eine Ahnung von der massiven Schranke zwischen sich und der Welt. Seine Welt – das ist das »Höllenchaos von West-Baltimore«. Wer die grandiose US-Serie »The Wire« gesehen hat, kennt diese von Armut, Rassismus, Gewalt und Perspektivlosigkeit geprägte Welt.
Coates’ als offener Brief an seinen 15-jährigen Sohn geschriebenes Buch trifft einen Nerv, für den der Name einer Stadt im US-Bundesstaat Missouri steht: Ferguson. Als dort im Juli 2014 der unbewaffnete Michael Brown von Polizisten durch Schüsse getötet wurde, kam es zu schweren Unruhen gegen Polizeigewalt. Ferguson wurde zum Synonym der Diskussion über Rassismus, Polizeigewalt und Ungleichheit – und es gab der »Black Lives Matter«-Bewegung gehörigen Auftrieb.
Rassismus wird in Coates’ Buch als unmittelbar physische Gewalt erfahren, als Angst, seinen Körper zu verlieren. Diese Angst vor dem prügelnden Vater, ein Black-Panther-Aktivist, und dem Zugriff der Staatsgewalt hat Coates von klein auf selbst erfahren, sie war immer da – bei allen Schwarzen in dem Viertel seiner Kindheit und Jugend. Erst während eines Paris-Aufenthaltes weicht die Furcht: »Wie wahnsinnig gern ich so ein Leben, wie gern ich eine Vergangenheit ohne Angst gehabt hätte.« Seinem Sohn indes schreibt er mit Verweis auf Eric Garner, John Crawford und Tamir Rice, die durch Polizeigewalt Leib und Leben verloren: »Und jetzt weißt du, dass die Polizeireviere deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören.« Meist würden sie sogar noch mit einer Rente belohnt, ergänzt er sarkastisch. Doch Coates personalisiert nicht und verweist auf historische rassistische Traditionen: »Die Zerstörer sind nicht beispiellos böse, sondern schlicht Menschen, die die Launen unseres Landes umsetzen, die sein Erbe und sein Vermächtnis richtig deuten, bis heute.« Und das Erbe lautet: In Amerika ist es Tradition, den schwarzen Körper zu zerstören.
Nicht nur hier wird deutlich, Coates hat einen sehr wütenden Text geschrieben. Sein Hass auf das offizielle Amerika zeigt sich auch in folgender Episode: Nachdem er nach seinem Studium an der Howard University in Washington D.C., dem Mekka für schwarze Intellektuelle, nach New York gezogen ist, erlebt er dort 9/11. Doch Trauer verspürt er keine. »Ich aber betrachtete die Ruinen von Amerika mit kaltem Herzen.« Eine persönliche Katastrophe hat Coates härter getroffen. Ein Studienfreund ist durch einen (schwarzen) Polizisten zu Tode gekommen. Zudem denkt er an das südliche Manhattan, wo sich ein Sklavenfriedhof mit zahllosen Leichen befand, als Ground Zero der Afroamerikaner.
Glücklicherweise leidet unter der Wut die Analysefähigkeit kaum. (Ausnahme: seine Forderung nach Reparationen mit Zahlungen der BRD an Israel zu begründen, ist sicher nicht glücklich.) Insbesondere im »Plädoyer für Reparationen« zeigt Coates, wie auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei Schwarze in Amerika systematisch benachteiligt wurden: »Im Süden herrschte eine zweite Sklaverei. Im Norden wirkten gesetzgebende Organe, Bürgermeister, Nachbarschaftsorganisationen, Banken und Bürger zusammen, um schwarze Menschen in Ghettos festzusetzen, wo sie übervölkert, übervorteilt und unterbeschult lebten.« Am Beispiel des Chicagoer Stadtteils North Lawndale beschreibt er die Praxis des »Redlining«, des staatlichen Markierens von Stadtteilen, in denen Banken keine Hypothekenkredite vergeben dürfen. Die aus den Südstaaten in die Industriemetropolen des Nordens wandernden Schwarzen waren somit gezwungen, Häuser per Vertrag zu kaufen – völlig überteuert und mit harten Auflagen. So ging die Immobilie in die Hände des Voreigentümers zurück, wenn die Käufer mit den Raten in Verzug gerieten. Coates schildert das Leid der Betroffenen, die wie zum Beispiel Clyde Ross gezwungen waren, über Jahrzehnte drei Jobs parallel zu haben, um über die Runden zu kommen. Und er beschreibt, wie Ross und andere sich gegen diese Praxis zur Wehr setzten. 1968 wurde »Redlining« offiziell verboten, doch erstens war da der Schaden, die Ghettobildung schon angerichtet, und zweitens scheint die Praxis auch heute noch nicht vollständig Geschichte zu sein. So wurde der bewaffnete Raub der Sklaverei nach dessen Abschaffung noch 100 Jahre fortgeführt – »leise, systemisch, im Verborgenen«. Und das trotz der auch bei vielen Linken in den USA wie in Europa geschätzten New-Deal-Gesetzgebung in den 1930er Jahren unter Roosevelt.
Womit sich der Kreis schließt: Der demokratische Sozialist Bernie Sanders lehnt Reparationszahlungen an Afroamerikaner ab, weil es unwahrscheinlich sei, ein solches Gesetz durch den Kongress zu bekommen, und sie zu polarisierend seien. Sanders verweist darauf, dass es darauf ankomme, Armut und soziale Ungleichheit im Allgemeinen zu bekämpfen. Klasse über »Rasse«, so könnte man seinen Ansatz zusammenfassen. Coates nennt das den typischen demokratischen Ansatz, frei nach dem Motto, eine steigende Flut hebt alle Boote. Aber, so lautet sein in mehreren Zeitschriftenbeiträgen vorgebrachtes Argument, das ändere nichts an der weißen Vorherrschaft. Bedenkenswerte Argumente. Um so erstaunter reagierte die US-amerikanische Öffentlichkeit auf die Nachricht von Mitte Februar, dass Coates gleichwohl für Sanders stimmen werde.
»Zwischen mir und der Welt« ist ein beeindruckendes, mitunter pathetisches, ein hervorragend geschriebenes Buch, eines, das literarische Eleganz mit scharfer Analysefähigkeit verbindet. Zwar ist es in erster Linie ein Buch über die USA, doch seine Erkenntnis, dass Reichtum und Demokratie der Vereinigten Staaten von Amerika auf Ausbeutung und Versklavung beruhen, ist ebenso gut auf die gesamte sogenannte westliche Zivilisation zu übertragen.
Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt. Hanser Berlin. 235 S., geb., 19,90 €.
aus: neues deutschland, 29.02.2016