Der kategorische Imperativ der Nähe

Der Abgasskandal ist eine Steilvorlage für eine radikale Kritik der (Auto)-Mobilität. Die Linke sollte sie endlich nutzen

Mit solchen Leuten wird man niemals den Sozialismus aufbauen«, sagte ein Freund aus der DDR bestürzt zu André Gorz, als er des Verkehrs in Paris gewahr wurde. Gorz, der in Österreich geborene und ab den 1950er Jahren in Frankreich lebende Sozialphilosoph, hat 1975 den Text »Die gesellschaftliche Ideologie des Autos« veröffentlicht, in dem er auch diesen Ausspruch aufgreift. Mitte der 1970er Jahre war die Phase des Kapitalismus, die nach dem Autohersteller Ford benannt ist, zwar bereits durch Ölpreisschock und das Ende des Bretton Woods-System in eine massive Krise geraten. Doch von einer postfordistischen Phase sprach man damals noch nicht. Und der Ausdruck meint ja auch nicht, dass die zentrale gesellschaftliche Stellung des Autos ins Wanken geraten ist. Im Gegenteil: Wurden 1975 global »nur« etwas über 33 Millionen Pkw, Lkw und Busse produziert, hat sich die Zahl heute fast verdreifacht. Insofern erweist sich Gorz’ radikale Kritik des Automobilitätsparadigmas als sehr weitsichtig.

Der erst 2009 in dem Buch »Auswege aus dem Kapitalismus« wieder veröffentlichte Text erhält durch den Abgasskandal bei VW eine besondere Aktualität. Dieser hätte eigentlich eine Steilvorlage für eine radikale Kritik der Autogesellschaft, ihres Mobilitätsversprechens und ihrer Ideologie sein können. Doch die Chance wurde bislang weitgehend vertan. Das ist umso bedauerlicher, weil es sich bei der Kritik der Zurichtung der Gesellschaft auf den individuellen Autoverkehr um ein Phänomen handelt, in dem die politische Ökonomie der Mobilität mit Fragen von Ökologie, Stadtentwicklung, Energie, Gerechtigkeit und Kapitalakkumulation verknüpft sind.

Dabei gibt es aufseiten der Linken neben Gorz’ Text weitere hervorragende Arbeiten, die die Automobilität als nicht nur ökologisch untragbar, sondern auch als ökonomisch und sozial problematisch kritisieren. Doch es hat Gründe, warum sich Linke wenig mit der Kritik der (Auto)-Mobilität beschäftigt. Insbesondere die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Linke pries das Auto als Inbegriff von Wohlstand und Freiheit. »Ein Auto für jeden Mann« (!) lautete eine Forderung der schwedischen Sozialdemokratie, der sich auch die Gewerkschaften anschlossen. Und Helmut Schmidt forderte 1965 »Jeder Deutsche soll den Anspruch haben, sich einen eigenen Wagen zu kaufen.« Man muss es nicht gleich wie Klaus Gietinger formulieren, der polemisch in seinem »Autohasserbuch« schrieb: »Durch das Blut der Vertreter der Arbeiterklasse fließt Benzin, das Herz hat eine obenliegende Nockenwelle, der Schwanz ist ein Einspritzer (manchmal auch bei hochbezahlten Nutten), und im Gehirn hat sich Schweröl abgelagert.« Gleichwohl steht fest: Mit der Glorifizierung des Autos ging die Arbeiterbewegung der bürgerlichen Ideologie auf dem Leim.

Denn für Gorz stellt der Massenautomobilismus die »Konkretisierung eines vollständigen Triumphs der bürgerlichen Ideologie auf der Ebene der Alltagspraxis« dar. Dieser begründe und unterhalte nämlich die trügerische Vorstellung, dass sich jedes Individuum auf Kosten aller mehr Geltung verschaffen und bereichern kann. »Der aggressive, grausame Autofahrer, der in jeder Minute ›die anderen‹ symbolisch ermordet, da er sie nur noch als materielles Hindernis der eigenen Geschwindigkeit wahrnimmt, dieser Egoismus hat mit der allgemeinen Verbreitung des Autofahrens die Vorherrschaft eines allgemein bürgerlichen Verhaltens eingeleitet«, stellt Gorz fest.

Die Anzahl der Menschen, die jährlich durch BMWs, VWs oder Chryslers getötet oder verletzt werden, ist tatsächlich immens. Der Straßenverkehr sei tödlicher als Ebola oder Malaria, hieß es im »Spiegel« anlässlich der Veröffentlichung des »Weltberichts zur Sicherheit im Straßenverkehr« 2015. In letzter Zeit starben in Deutschland rund 3500 Menschen pro Jahr auf der Straße, weltweit sind es ca. 1,25 Millionen. Das sind mehr als zwei Tote pro Minute. Hinzu kommt die Zahl der Verletzten: Sie beläuft sich Schätzungen der WHO zufolge auf bis zu 50 Millionen Menschen jährlich. Massenvernichtungswaffe Auto – diese Einschätzung ist nicht übertrieben.

Doch im Gegensatz zu anderen Massenvernichtungswaffen ist das Auto kein mediales Aufreger-Thema. Die Opfer haben das Pech, vereinzelt getötet zu werden, Crashs mit Todesfolgen sind zu selbstverständlich geworden. Nur wenn einmal ein Bus einen Abhang hinunterstürzt oder ein Unfall bizarre Züge hat, schaffen sie es in die Nachrichten. Oder wenn ein Intellektueller wie der ehemalige Titanic-Chefredakteur Thomas Gsella seine Trauer über den Tod seiner Schwester auf der Autobahn an prominenter Stelle zum Ausdruck bringen darf – und seine Wut darüber, dass Deutschland das einzige Land in Europa ist, dass kein Tempolimit auf Autobahnen kennt. »Allein Strafgesetze hindern mich, meine Empörung und meine Wut diejenigen spüren zu lassen, die für diese Tode, für diese Raserei Mitverantwortung tragen«, schrieb Gsella in der »FAZ«.

Zum Preis des Fortschritts Mobilität gehören jedoch noch jene, die durch Abgasemissionen wie Stickoxide und Feinstaub frühzeitig aus dem Leben scheiden. Forschern des Max-Planck-Instituts zufolge sterben in Deutschland doppelt so viele Menschen an Verkehrsemissionen wie an Verkehrsunfällen. Global sind es zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen jährlich. Prognose steigend.

Doch warum hält sich der Mythos vom Auto, das angeblich Freiheit, Autonomie und Mobilität verspricht, so hartnäckig? Im Grunde, weil unsere Gesellschaft, insbesondere die städtische, in so einem Maße auf die Anforderungen des Autoverkehrs zugeschnitten ist, dass es für viele Menschen eine Notwendigkeit ist, sich ein Auto anzuschaffen. Die Orte des Wohnens, Arbeitens, der Freizeit und des Konsums fallen auseinander. Die Zersiedelung der Stadt entlang von mehrspurigen Autobahnen macht die Stadt zu einem unwirtlichen Ort. Die Straße, vor dem Siegeszug des Autos ein Ort des Zusammenkommens, der Kommunikation, dient nur noch dazu, möglichst schnell von A nach B zu kommen.

Möglichst rasch ist dabei relativ. Zwar kann man mit dem Auto in beispielsweise einer halben Stunde sehr viel mehr Kilometer zurücklegen als mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Doch erstens setzt das freie Straßen voraus, was oft nicht gegeben ist. Vielmehr ist die Durchschnittsgeschwindigkeit im Stadtverkehr oft nicht höher, als sie auch ein Radfahrer erreichen kann. Und zweitens verringert sich durch das Auto nicht die Zeit, die man im Durchschnitt am Tag für Mobilität aufbringt, da zugleich immer längere Strecken zurücklegt werden.

Der allgemeine gesellschaftliche Zwang zur Geschwindigkeit und zur grenzüberschreitenden Mobilität von Menschen und Waren hat auch etwas mit der Gesetzmäßigkeit der Kapitalakkumulation zu tun. Der Unternehmer möchte den in den Waren vergegenständlichten Mehrwert so schnell wie möglich realisieren, um die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter fortzusetzen. Dazu zwingt ihn die Konkurrenz der anderen Kapitalien. Er realisiert den Profit je schneller, desto rascher die Handys, Autos und Computer auf die Märkte gelangen und dort losgeschlagen werden. Es gibt mithin eine starke Motivation, den Verlust, den große Entfernungen mit sich bringen, durch Innovationen im Transportsektor zu minimieren. Die Umschlagzeit des Kapitals drückt der ganzen Gesellschaft ihren Stempel auf.

Dem Paradigma der Automobilität kann nur eines der Nähe entgegengesetzt werden. Gorz beschrieb dieses nur global zu verwirklichende Prinzip folgendermaßen: »Damit die Leute auf ihr Auto verzichten können, genügt es nicht, ihnen bequemere kollektive Verkehrsmittel anzubieten: es muss möglich sein, dass sie überhaupt nicht mehr transportiert zu werden brauchen, weil sie sich in ihrem Viertel, ihrer Gemeinde, ihrer auf Menschen zugeschnittenen Stadt zu Hause fühlen und weil es ihnen Freude macht, von ihrer Arbeit zu Fuß nach Hause zu gehen – zu Fuß oder oder allenfalls mit dem Fahrrad.« Nun, über Straßen- und S-Bahnen ließe sich vielleicht noch nachdenken.

Aber offenkundig ist Gorz’ Zielrichtung: Es geht darum, die Desintegration des Menschen, die in der kapitalistischen Fabrik begann und die sich in der Desintegration des Raumes fortsetzte, aufzuheben. Und in diesem Sinne fordert das schwedische Autorenkollektiv Planka.nu, dessen Essay »VerkehrsMachtOrdnung« im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien: »Wer den Liberalismus bekämpfen will, muss den Autoverkehr bekämpfen.« Optimistisch postuliert das Kollektiv, es sei möglich, eine Gesellschaft aufzubauen, in der Mobilität kein kategorischer Imperativ ist. Provinziell, rückständig und piefig? Planka.nu hält dagegen. Die Umstellung auf nachhaltige Energieformen setze auch voraus, unseren Energieverbrauch drastisch einzuschränken. Das heiße indes nicht, sich gar nicht mehr fortzubewegen. »Es bedeutet nur, dass der Zwang des monotonem Hin-und-Her verschwindet und dass wir uns während unserer Reisen als Teil der Gesellschaft fühlen, anstatt ihr zu entfliehen.«

Übrigens: Leider ist nicht überliefert, was der eingangs erwähnte DDR-Bürger, der sich so entsetzt über den Autoverkehr in der kapitalistischen Metropole Paris zeigte, über die Situation auf den Straßen der DDR nach dem Anschluss an die BRD dachte. Mit der Mauer fiel nämlich auch das Tempolimit in Ostdeutschland. Die unterdrückten DDR-Bürger konnten mit ihren neu erworbenen West-Autos ihren Drang nach Freiheit durch das Durchdrücken des Gaspedals nun so richtig ausleben. 14 410 Menschen überlebten das nicht, die Zahl der tödlichen Unfälle verdreifachte sich und hatte sich erst 2002 wieder dem Ausgangsniveau angenähert. Ganz so friedlich waren zumindest die Folgen der »friedlichen Revolution« nicht.

aus: neues deutschland, 28.05.2016

 

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