Nach dem Brexit-Votum freuten sich Wilders, Le Pen und Höcke. Wie aber ist darauf zu reagieren?
Ist die Linke in Deutschland zu wenig populistisch? Stünde sie mit Oskar Lafontaine an der Spitze der Linkspartei heute besser da? Wäre gar der Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) zu verhindern gewesen? Es gibt linke Publizisten, die das bejahen, und Politiker, die ab und an einen populistischen Testballon steigen lassen. Die Fremdarbeiter-Rede Lafontaines oder die Feststellung Sahra Wagenknechts nach der Kölner Silvesternacht – »Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt« – gehören dazu. So wird die Linke vielleicht populistisch, aber nicht linkspopulistisch. Das ist das Spiel mit dem fremdenfeindlichen Ressentiment, das In-Konkurrenz-Treten mit den originären Rechtspopulisten. Womit nichts gewonnen wäre. Die Annahme, dass Wähler mit rassistischen Einstellungen bei der Linken besser aufgehoben wären, gilt nur für die Partei selbst, die sich möglicherweise über bessere Wahlergebnisse freuen könnte. Fremdenfeindliche Meinungen jedoch würden eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren.
Doch die schlechten Versuche deutscher Linker, sich des Mittels des Populismus zu bedienen, müssen nicht bedeuten, dass der Populismus per se zu verdammen ist. Anderswo, wie in den USA und Südamerika, ist er positiv und oftmals links besetzt. In den Vereinigten Staaten gibt es eine Tradition des auf Selbsttätigkeit der Bürger setzenden Populismus. Die People›s Party des ausgehenden 19. Jahrhunderts, auch Populist Party genannt, steht hierfür. Und in Argentinien und Venezuela existieren bis heute linke Varianten eines Populismus, wenngleich oft mit paternalistischen Zügen. Ein in Argentinien geborener Theoretiker war denn auch – zusammen mit seiner Frau – dafür verantwortlich, dass der linke Populismus einen theoretischen Überbau bekam und nach Europa vordrang. Der 2014 verstorbene, überwiegend in England lehrende, postmarxistische Theoretiker Ernesto Laclau und die Belgierin Chantal Mouffe beeinflussten die aus der Bewegung der Empörten hervorgegangene spanische Linkspartei Podemos und ihr Aushängeschild Pablo Iglesias.
Der Resonanzboden für den Populismus, ob links oder rechts, ist Mouffe zufolge der folgende: Die Wahl zwischen Mitte-rechts und Mitte-links sei so wie die zwischen Coke und Pepsi. Natürlich, der Vergleich hinkt. Vor allem, wenn man die beiden Erfrischungsgetränke mag. Worauf Mouffe jedoch aufmerksam machen möchte, ist, dass die nominell sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien durch die Kapitulation vor der neoliberalen Hegemonie den Weg bereitet haben für das Schreckgespenst des Populismus in Europa. Mouffe glaubt, »dass wir in den kommenden Jahren eine tiefe Veränderung der in Europa einst vorherrschenden politischen Grenzen erleben werden und dass die entscheidende Konfrontation zwischen dem linken Populismus und dem rechten Populismus stattfinden wird.« Die jüngsten Ereignisse geben ihr Recht. Selbst im bis dato so populismusfeindlichen Deutschland eilt die AfD von Wahlerfolg zu Wahlerfolg. Und das Votum der Briten über den EU-Austritt ist Ex-Premierminister Cameron de facto von den Rechtspopulisten der UKIP aufgezwungen worden.
Unter Populismus versteht man gewöhnlich eine von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik mit dem Ziel, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen. Dieser Definition zufolge weisen sogenannte Volksparteien wie die CDU oder SPD ebenfalls starke populistische Züge auf. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller hat in seinem Essay »Was ist Populismus?« eine präzisere Definition zur Diskussion gestellt. Demnach lasse sich Populismus nur nach der gedanklichen Struktur bestimmen: Ein moralisch reines und homogenes Volk werde einer unmoralischen und korrupten Elite gegenübergestellt. Den Populisten erkenne man daran, dass er beanspruche, den Willen des »wahren Volkes« zu vertreten. Unabhängig davon, ob dieser Wille oder dieses Volk empirisch fassbar ist.
Dass man diese binäre Gegenüberstellung leicht rechtspopulistisch ausbuchstabieren kann, liegt auf der Hand. Bei Pegida und AfD heißt es dann, die EU-Bürokraten in Brüssel, Merkel und die Politikerkaste verraten das Volk. Zugleich wird über den Ausschluss von Migranten die Einheit des Volkes konstruiert. Aber eine linkspopulistische Interpretation? Nach Mouffe sieht die so aus: Die Einheit des »progressiven Volkes« wird nicht durch die Exklusion der Immigranten, »sondern durch die Festlegung eines Gegners: die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus« hergestellt. Daran ist indes problematisch, dass an die Stelle des sozialstrukturellen Gegensatzes von Kapital und Arbeit und eines kapitalistischen Produktionsweisen eigenen Prozesses ein schlichter Gegensatz von »denen da oben« und »dem Volk« tritt.
Der Knackpunkt ist somit der Bezug zum Volk. In der linkspopulistischen Variante werden die Migranten durch den Neoliberalismus ersetzt, das Volk aber bleibt. So kann man Müller zustimmen, wenn er schreibt: »Es ist nicht evident, wodurch eine Linke sich besserstellt, die nicht nur Kritik am – sehr verkürzt gesagt – Neoliberalismus formuliert, sondern neben einem ökonomisch-politischen Gegenprogramm auch noch ›ein Volk entwirft‹.«
Müllers Frage, ob nicht eine wiederbelebte Sozialdemokratie mit einem überzeugenden Programm für mehr Gleichheit besser wäre, geht zwar in die richtige Richtung, bleibt aber dennoch unbefriedigend. Wenn in letzter Zeit soziale Reformen durchgesetzt worden sind, dann nicht aufgrund einer wiederbelebten Sozialdemokratie, sondern aufgrund einer »revolutionären Entschlossenheit« und einer »voluntaristischen Dauermobilisierung« (Raul Zelik), die die im Kern sozialdemokratischen Reformen erst ermöglichte. Es kommt mithin – da hat Mouffe durchaus Recht – darauf an, die postpolitische Situation, die durch den »Konsens in der Mitte« gekennzeichnet ist, aufzubrechen. Aber nicht wie Mouffe meint, durch die Überwindung des Rechts-Links-Gegensatzes und die Anerkennung der »populistischen Situation«, sondern durch eine Reaktivierung einer Politik, die sich des Gegensatzes von Arbeit und Kapital bewusst ist und ins Zentrum die sozialen Belange der Niedriglöhner, Lohnabhängigen und prekär Beschäftigten sowie der Erwerbslosen stellt.
Das wäre auch ein Ansatz, der aufzeigen könnte, dass die vielen Wähler der AfD gegen ihre eigenen sozialen Interessen handeln. Denn im Kern ist das Programm der AfD wirtschaftsliberal und würde die Umverteilung von unten nach oben nur intensivieren.
Jan-Werner Müller: Was ist Populismus? Ein Essay. Suhrkamp. 160 S., br. 15 €.
aus: neues deutschland, 16.7.2016