Marxisten wollen uns nicht die Zahnbürsten wegnehmen

Ein strukturell pervertiertes System aus kommerziellen Beziehungen und Besitz sei der Kapitalismus, schreibt Papst Franziskus in seiner Enzyklika »Laudato si«. Was als radikale Kapitalismuskritik erscheint, zielt beim Oberhaupt der katholischen Kirche einzig auf die ungerechte Verteilung in der globalisierten neoliberalen Ökonomie. Auch die Kritik des viel beachteten Buches »Das Kapital im 21. Jahrhundert« von Thomas Piketty hebt auf die Verteilungsfrage ab. Nicht gestellt wird die Frage, ob in einer von Privateigentum dominierten Eigentumsform Ungleichheit überhaupt vermeidbar ist.

Der Bremer Sozialpsychologe Gerhard Vinnai tut in seinem neuen Buch genau dies. Er nimmt die Kritik des Privateigentums wieder auf, nachdem sie mit der Implosion des Realsozialismus an den Rand gedrängt worden ist. Er hält sie für notwendig, aber er erkennt an, dass auch die liberalen Verteidiger_innen des Privateigentums bedenkenswerte, ja teils überzeugende Argumente vortragen. Er plädiert somit nicht schlicht für die Abschaffung des Eigentums, sondern an Hegel und Marx anknüpfend für seine Aufhebung. »Vielmehr geht es vor allem darum, seine Vorteile, also vor allem seine Freiheit stiftende Funktion, zu bewahren oder in höher entwickelten Eigentumsformen aufzuheben«, stellt er fest.

Freiheit stiftende Funktion? Das klingt nach den Apologeten des bürgerlichen Eigentums, nach John Locke, Immanuel Kant und anderen. Mit deren Argumenten setzt sich Vinnai knapp und präzise auseinander. Seine Kritik lautet: Die Verbindung von Freiheit und Eigentum gelte allenfalls für die Produktionsmittelbesitzer, nicht jedoch für die Masse jener, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Zudem werde bei den bürgerlichen Theoretikern nicht zwischen Eigentum an den Produktionsmitteln und anderen Formen von Eigentum unterschieden. Aristoteles, Rousseau, Kant oder Fichte gingen überdies von einem Ideal einer Gesellschaft aus, in der das Privateigentum relativ gleichmäßig verteilt ist.

Der Kapitalismus untergräbt das Privateigentum

In der heutigen kapitalistischen Klassengesellschaft ist das jedoch nicht der Fall, schreibt Vinnai. Zentralisations- und Konzentrationsprozesse führten dazu, dass viele Eigentümer enteignet werden, weil sie der von freien Marktkräften entfesselten Konkurrenz nicht gewachsen seien. Hunderttausende Bauern müssten ihr Eigentum an ihrem Produktionsmittel – dem Land – aufgeben, viele Kleinunternehmen und Mittelständler würden von Großunternehmen und Monopolisten verdrängt. Für die Masse der Bevölkerung verbleibe nur der Privatbesitz an Konsumgütern und Geld. Vinnai macht auf ein viel zu wenig beachtetes Paradox aufmerksam: Zwar hat der Kapitalismus dem privaten Eigentum in großem Stil zum Durchbruch verholfen, aber er schafft dieses zugleich in wachsendem Maße wieder ab.

Dennoch, so der Autor, sei der Hinweis auf die Verknüpfung von Freiheit und Privateigentum ernst zu nehmen. Sie könne sehr real sein, wenn sie die freie Verfügung über Besitztümer garantiere. Personen könnten in Abgrenzung zum Staat oder anderen Individuen ihr Leben so gestalten, wie sie es wollen. Gleichzeitig, so stellt Vinnai fest, ist das eine »reduzierte Freiheit«, weil es sich um die Freiheit des Menschen als isolierter und auf sich zurückgezogener Monade handelt.

Warum gibt es aber so wenig Kritik am Privateigentum an den Produktionsmitteln, das sich in den Händen weniger konzentriert? Neben der Diskreditierung kollektiver Eigentumsformen durch den osteuropäischen Staatssozialismus sieht Vinnai vor allem einen psychologischen Grund: »Die Kritik des Privateigentums wird in unserer Gesellschaft vor allem dadurch erschwert, dass die psychische Verfasstheit der Menschen in ihr nicht vom Privateigentum zu trennen ist.« Der Autor meint hiermit das Eigentum an Häusern, Büchern, Kleidung oder anderen Objekten, die es dem Individuum erlauben, sich in ihnen wie in einer Art Spiegel zu sehen. Wer ich bin, das zeigt sich darin, wie ich meine Wohnung, mein Haus oder den Garten gestalte; Kleidung wird zur Darstellung des eigenen Selbst. Und Objekte dienten zudem als Erinnerungsobjekte, die biografische Erfahrungen abstützten. Wer kennt das nicht? Ein bestimmtes Buch erinnert an den Strandurlaub in Kroatien, eine Schallplatte an eine verflossene Liebe.

Sigmund Freud beschrieb den Menschen als »Prothesengott«, der sich »Hilfsorgane« zulege, mit deren Hilfe er sich seine »Gottesähnlichkeit« zu beweisen suche. Ein aktuelles Beispiel ist die Nutzung von Smartphones. Ihr Gebrauch, insbesondere der sozialer Netzwerke, sei gerade bei Jüngeren nahezu untrennbar mit bewussten und unbewussten Vorstellungen vom eigenen Selbst verbunden.

Diese seelische Bindung an das Privateigentum differenziere nicht; sie setzt bildlich gesprochen das Eigentum am Großkonzern BMW mit dem an einem BMW X3 gleich. In Vinnais Worten: »Die bewusste oder unbewusste Gleichsetzung von allem Privateigentum muss zur angstvollen Ablehnung jeder gründlichen Eigentumskritik führen, solange sie als Bedrohung des eigenen Besitzes und der mit ihm verbundenen Existenz erscheint.« Politische Bewegungen, die die Vergesellschaftung eines besonderen Eigentums – des an den Produktionsmitteln – anstreben, haben es somit schwer. Ihnen wird der Vorwurf gemacht, selbst das Eigentum an der Zahnbürste abschaffen zu wollen.

Die Seele kennt keine Eigentumsschranken

Allerdings sieht der Verfasser Ansatzpunkte, wie die seelischen Bindungen an das Privateigentum zu lockern sind. Er erkennt Widerständiges in der Seele, vor allem in ihren unbewussten Anteilen. Mit Bezug auf den anarchistischen Theoretiker David Graeber verweist er auf den sogenannten elementaren Kommunismus. Gemeint ist damit, dass auch im westlichen Kapitalismus kommunistische Elemente enthalten sind: spontane Hilfeleistungen, Gastfreundschaft oder Hilfe im Katastrophenfall etwa. Am ausführlichsten veranschaulicht Vinnai das Potenzial für Widerständiges anhand des Internets. Das Privateigentum an Musik, Texten oder Filmen wird durch das legale wie illegale Herunterladen tendenziell außer Kraft gesetzt. Beim Sharing von Autos, Wohnungen oder Bohrmaschinen geht es nicht um Eigentum, sondern um die zeitliche Nutzung. Soziale Netzwerke wie Facebook sind ihm zufolge Tendenzen des Wunsches nach Aufhebung einer mit dem Privateigentum verbundenen Isolierung. Vinnai schreibt gar, dass Facebook auf eine merkwürdige Art gewissermaßen einen kommunistischen Traum zu erfüllen verspreche. Aber er bleibt auch skeptisch – und erweist sich nicht nur an dieser Stelle als Dialektiker im besten Sinne: Freilich könne diese Entwicklung auch der Kommerzialisierung neuer Räume Vorschub leisten.

Vinnais knappes Buch ist somit aus mehreren Gründen wichtig. Es rückt die Kritik des Privateigentums in den Mittelpunkt kritischer Gesellschaftstheorie, die nicht nur einen diskriminierungsfreien Kapitalismus anstrebt, sondern seine Überwindung. Die Eigentumsfrage ist deshalb so wichtig, weil sich an ihr festmachen lässt, wie produziert wird und wer sich die Produkte der Arbeit aneignet. Überdies knüpft sein Text an der inzwischen breit geführten Debatte über Ungleichheit an und treibt diese weiter, ja radikalisiert sie gewissermaßen. Am wichtigsten aber: Vinnai macht klar, Privateigentum ist nicht gleich Privateigentum: Marxist_innen wollen uns nicht die Zahnbürste wegnehmen. Damit befindet sich der Text in der besten Tradition kritischer Gesellschaftstheorie von Marx, Freud und Fromm. Manches, beispielsweise die Frage, wie eine Ökonomie ohne Geld konkreter aussehen könnte, hätte man sich ausführlicher gewünscht. Auch eine Rezeption von Bourdieus Schrift »Der Einzige und sein Eigenheim« wäre lohnend gewesen. Aber das sind lediglich Abzüge in der B-Note.

Gerhard Vinnai: Die Tücken des Privateigentums. Der Einfluss auf die Psyche und notwendige Alternativen. VSA-Verlag, Hamburg 2017. 144 Seiten, 11,80 EUR.

aus: analyse & kritik Nr. 634 / 23.1.2018

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