Buchautor Lukas Linek über gewandelte Hörgewohnheiten im Zeitalter des Streamings
Napster, iTunes und Spotify haben den Musikkonsum radikal gewandelt. Durch Downloads, Streaming und Smartphones ist fast jeder aufgenommene Song jederzeit und überall verfügbar. Das hat Auswirkungen nicht nur auf Hörer*innen und Musiker*innen, sondern auch auf die Musikindustrie und Tonqualität der Musik. Parallel dazu erfährt die totgeglaubte Schallplatte eine Renaissance. Lukas Linek hat sich in seinem Buch »Zwischen Schallplatten und Streamingdiensten. Wie Digital Natives Musik rezipieren« (Buechner-Verlag, 142 Seiten, 18 EUR) unter anderem mit diesen Fragen beschäftigt. Linek studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft mit Fokus auf Musikwirtschaft und neue Medien an der Universität Wien. Als audiophiler Liebhaber von hochwertigen Aufnahmen arbeitet er in der Welt der Hi-Fi.
Du schreibst in deinem Buch, dass das kapitalistische System Musik zu einem primitiven und formlosen Medium gemacht habe. Wie das?
Lukas Linek: Die Wertschätzung gegenüber der Musik hat sich über die letzten Jahrzehnte stark verändert. Wir hören mehr Musik als je zuvor, haben aber noch nie so wenig dafür gezahlt. Der Druck auf Künstler steigt mehr denn je – sie müssen mehr und billiger produzieren. Das äußert sich natürlich auch in der Qualität der Inhalte. Noch vor wenigen Jahren hatten Labels größere Budgets für aufwendige und somit auch teurere Produktionen – heute versuchen sie, möglichst viel synthetisch zu ersetzen.
Synthetisch zu ersetzen? Das musst du erläutern.
Einerseits wird vor allem in der Popmusik versucht, Musiker und Instrumente digital, also durch Synthesizer und Sound-Samples, zu ersetzen. Es ist möglich, Stimmen zu modulieren, zu korrigieren und zu verbessern. Ganze Chöre können mit wenigen Stimmen künstlich erzeugt werden. Andererseits gibt es verstärkt das Phänomen der künstlich produzierten Trends. Zum Beispiel neue Musikgenres, die zwar einen originären Ursprung aufweisen, deren Verbreitung aber mit optimierten Meinungsmachern und Influencern zugeschnitten auf die Zielgruppe synthetisch forciert wird.
Gibt es Beispiele?
Nehmen wir nur zwei aus den letzten Jahren: Dubstep. Von 2010 bis 2014 war das in Süd-London entstandene Genre omnipräsent. Es war in Filmen und selbst im Radio zu hören. Heute stellt Dubstep dieselbe Randerscheinung dar wie vor 2010. Ähnliches gilt für die Emo-Musik und die damit verbundene Emo-Szene. War Emo noch vor 10-15 Jahren ein Massenphänomen, ist es heute praktisch passé.
Du sprichst von Musik als einem primitiven, formlosen und nur auf Gewinn optimierten Tertiärmedium. Was ist das?
Als Tertiärmedium definieren wir Medien, die nebenbei oder in Kombination mit einem anderen Medium, beispielsweise Film, Musikvideo oder Computerspiel, konsumiert werden. Heute wird Musik kaum noch aktiv gehört und erlebt. Wann hast du dir zum Beispiel das letzte Mal ein Musikalbum zu Hause konzentriert gehört?
Das ist gar nicht lange her, aber da mag ich wohl zu einer Minderheit gehören.
Mit Sicherheit. Kaum jemand nimmt sich die Zeit, sich intensiv mit den Inhalten eines musikalischen Werkes auseinanderzusetzen und Musik zu erleben. Das war früher anders, Musik wurde stärker als eigenständiges Gut wahrgenommen und ihr wurde mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Heute wird Musik konsumiert und dient der Berieselung.
Ist das nicht zu pessimistisch? Schließlich ist es durch Digitalisierung, Streaming und günstiger Heimstudiotechnik zu einer Demokratisierung von Produktion, Vertrieb und Konsum gekommen. Immer mehr Künstler können am Laptop Musik produzieren und sie online vertreiben. Noch nie konnten so viele Menschen so viel Musik hören – sogar kostenlos im Netz.
Dies ist wie so häufig ein zweischneidiges Schwert. Es ist richtig, dass die Demokratisierung der Musik ein Meilenstein in unserer kulturellen Entwicklung darstellt. Das Problem jedoch ist die ungeheure Menge an Musik. Auf kurz oder lang wird darunter die Qualität leiden oder sie wird aufgrund der Überflutung nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten können. Früher haben professionelle Gatekeeper in den Redaktionen von Musikzeitschriften, Radios oder TV Einfluss darauf nehmen können, wie sich musikalische Trends entwickeln oder Musikszenen gehypt werden. Heute hat der Gatekeeper weitgehend ausgedient.
Klingt doch gut, wenn Musikliebhaber nicht auf die Empfehlung von hochnäsigen Kritikern angewiesen sind.
Allerdings greift die Musikindustrie, um der Flut an Musik Herr zu werden, mehr und mehr auf Nutzerdaten zu, um eine pseudoindividuelle musikalische Erfahrung für jedermann zu schaffen. Denn Musikempfehlungen und das Finden und Entdecken von neuen Sängerinnen oder Bands findet inzwischen ja fast ausschließlich digital statt. Computeralgorithmen von Spotify und Apple Music kennen unser Musiknutzungsverhalten und passen Empfehlungen und potenzielle neue Favoriten datenbasiert an.
Man stößt so aber auf interessante Musik.
Ja, das hat den Vorteil, dass wir einerseits abseits des Mainstreams an Inhalte gelangen, die wir früher kaum entdeckt hätten. Andererseits gefährdet der Mangel an Gatekeepern jedoch den Mainstream selbst. Die frühere Aufgabe der Musikredakteure und Musiktheoretiker, einen kulturell bereichernden und anerkannten Mainstream zu kreieren, ist durch einen gewinnorientierten, algorithmusbasierten und austauschbaren Mainstream ersetzt worden. Insofern ist die Funktion des Gatekeepers nicht unbedingt negativ zu sehen. Vielmehr stellt sich die Frage, mit welcher Motivation der Kritiker, Redakteur, Musikwissenschaftler oder Influencer seine Funktion wahrnimmt. Ist er rein marktwirtschaftlich gesteuert, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit andere Inhalte empfehlen als ein Gatekeeper mit musiktheoretischem Hintergrund.
Auch Musiker treiben marktwirtschaftliche Erwägungen um. Das verstehe ich zumindest darunter, wenn du vom Künstler als Gewerbetreibenden schreibst.
Durch die Digitalisierung der Musik und die Etablierung des Internets im Alltag hat sich auch die Vermarktung der Musik geändert. Wurden früher neue Alben via Radio, Plakat und Fernsehen vermarktet, promotet man heute praktisch nur noch digital. Dies hat den Vorteil, dass man seine Zielgruppe zumindest theoretisch viel effektiver erreichen kann. Musiker, die zugleich Gewerbetreibende sind, auch als Artepreneur bezeichnet, haben das Internet als Vermarktungskanal für sich entdeckt. Sie stehen häufig nicht bei einem Musiklabel unter Vertrag, produzieren meist auch nicht mehr in großen Tonstudios.
Du sprachst bereits mehrmals die Qualität der Musik an. Ist die gegenwärtige Musik schlechter, als sie es früher war?
Es gibt heute sehr viel gute Musik. Das Problem ist: Durch die viel größere Menge an schlechter und billiger Musik ist es schwieriger geworden, sie zu finden.
Gibt es überhaupt Kriterien für die Qualität von Musik? Für die Tonqualität mag das ja noch angehen. Wie steht es um diese im Zeitalter des Streamings?
Musik wird heute primär digital aufgenommen und sie wird viel lauter und mit einem deutlich geringeren Dynamikumfang produziert. Es gibt einen klaren Trend, dass die Tonqualität abnimmt, obwohl die technischen Produktionsmöglichkeiten eine audiophile Aufnahme ermöglichen. Früher wurde Musik auf Hi-Fi-Anlagen gehört, heute auf Smartphones, Kopfhörern oder Computer-Lautsprechern. Daher haben Tontechniker den Auftrag, ihre Mixe diesen Endgeräten anzupassen. Sie sollen möglichst »fett« und »betont« klingen. Das funktioniert nur mit Kompression oder Limitern. Vergleicht man alte, analoge Aufnahmen mit heutigen, erkennen wir eine andere Natürlichkeit und Authentizität der Aufnahme. Stimmen klingen wie Stimmen, Geigen wie echte Geigen.
Mal abgesehen von der Tonqualität: Ob aktuelle Hits besserer oder schlechterer Qualität sind als früher, ist doch eine subjektive Frage.
Es gibt für jeden Musiker, für jeden Künstler einen Grundantrieb, wieso er sich der Kunst widmet. Eine Idee, eine Motivation, eine Überzeugung. Das war stets das Fundament für Kunst. Wird der Antrieb dadurch ersetzt, Geld zu verdienen, folgt der Musiker nicht künstlerischen, sondern kommerziellen Kriterien. Natürlich stimmt es, dass Musikgeschmack rein subjektiv ist. Objektiv sind jedoch die Motive, warum der Künstler Musik machen will.
In vielen Ländern ist die CD ein Auslaufmodell, das Streaming sorgt für steigende Umsätze der Musikindustrie. Derweil feiert die Vinyl-Schallplatte ein Comeback. Wie ist das zu erklären?
Für viele hat der klassische Tonträger ausgedient, in Zeiten von Digitalisierung und Beschleunigung steigt für viele das Bedürfnis nach Abwechslung und Quantität. Das bieten Streamingdienste, manche von ihnen sogar in CD-Qualität. Der Vinyl-Trend verläuft parallel mit dem rasant ansteigenden, flüchtigen Musikkonsum. Vielen fehlt beim Streaming die tiefere Auseinandersetzung mit der Musik.
Und die bietet die Schallplatte?
Ja. Mit ihr hören wir bewusster, widmen aktiv Zeit dem Musik hören. Häufig beginnt das schon beim Kauf der Schallplatte: Wir suchen Plattenläden auf, stöbern dort in den Regalen, kommen mit anderen Enthusiasten ins Gespräch. Und das Hören selbst passiert meist nicht nebenbei. Das Album, die Musik, selbst die Anordnung der Titel bekommen plötzlich eine tiefere Bedeutung. Vinyl bietet uns die Möglichkeit, Klang wieder zu ertasten, ein Album in den Händen zu halten, die Nadel in der Rille zu beobachten und zu erleben, wie aus einem kleinen elektrischen Impuls eine Symphonie aus Klang aus den Lautsprechern ertönt. Die Schallplatte entschleunigt und bietet uns eine fast vergessene Erfahrung: sich für etwas wirklich Zeit zu nehmen.
aus: analyse & kritik 648, 16.4.2019