Man kann die Arbeiterklasse nicht vergessen
Anfang Januar fand ein historisches Ereignis statt, aber den deutschen Medien war es kaum eine Meldung wert. Bis zu 200 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter legten für zwei Tage in Indien das wirtschaftliche Leben lahm. Der Generalstreik war vermutlich der größte, den es jemals in der Geschichte der globalen Arbeiterbewegung gegeben hat. Die Ignoranz der deutschen Medien ist symptomatisch. In aller Ausführlichkeit wird über Gruppenvergewaltigungen in Indien, dem Land mit der zweitgrößten Einwohnerzahl, berichtet, nicht aber über dortige Arbeitskämpfe – oder über die in China, Indonesien oder Argentinien.
Allerdings: Nicht nur für liberal-konservative Beobachter sind die Kämpfe der globalen Arbeiterklasse vom Radar verschwunden zu sein. Auch viele Linke schenken ihnen wenig Aufmerksamkeit. Der Grund dafür? Erstens interessieren sich Linke – wenn überhaupt – für die Arbeitskämpfe in den hiesigen verbliebenen industriellen Zentren stärker als für die in Kalkutta, Peking oder Buenos Aires. Diese Kämpfe sind für die politisch-sozialen Auseinandersetzungen hierzulande wichtiger. Zweitens wurden die europäischen Arbeiterklassen, und gerade die deutsche, schon seit der Wende zum 20. Jahrhundert als verbürgerlicht kritisiert. Und seit Ende der 1970er Jahre hatten immer mehr europäische Linke »Abschied vom Proletariat« (André Gorz) genommen.
Aber von welcher Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt verabschiedete man sich hier? Von einer in geografisch und historisch besonderer Ausformung: von der europäischen Industriearbeiterschaft, wie sie sich mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern herausgebildet hatte. Durch den Zusammenschluss in Gewerkschaften, Genossenschaften, Kultur- und Sportvereinen sowie in Arbeiterparteien war diese Klasse von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich geworden. Daraus entstand die Arbeiterbewegung und wurde ein entscheidender politischer Faktor im Europa des 20. Jahrhunderts.
Mit der neoliberalen Globalisierung des Kapitalismus geriet die europäische (Industrie-)Arbeiterbewegung jedoch unter mächtigen politischen wie ökonomischen Druck. Auslagerungen, Fabrikschließungen, Automatisierung, das heißt die globale Neustrukturierung der vormals fordistisch-nationalen Wertschöpfungsketten sorgten für das Schrumpfen der einst so mächtigen (weißen, männlichen) Industriearbeiterschaft in den kapitalistischen Zentren.
Gleichzeitig wuchsen aber die Arbeiterklassen in den Ländern des Globalen Südens; selbst die Industriearbeiterschaft nimmt global noch zu. Heute bauen Arbeiter in Ostasien fast alle Schiffe zusammen, die weltweit vom Stapel laufen. Näherinnen in China oder Bangladesch sind für einen Großteil der globalen Textilproduktion verantwortlich. Sie arbeiten häufig unter schlimmsten Bedingungen. Nur wenn Gebäudeeinstürze oder Brände in Textilfabriken bis zu 1000 Opfer fordern, richtet sich der Blick der Öffentlichkeit für einen kurzen Moment auf die ansonsten vergessenen Angehörigen dieser Weltarbeiterklasse.
Legt man die Definition zugrunde, dass, wessen Arbeitskraft zur Ware gemacht wird, ein Arbeiter ist, gibt es gegenwärtig weltweit so viele Arbeiterinnen und Arbeiter wie nie zuvor. Auf 3,1 Milliarden schätzt der Historiker Marcel van der Linden ihre Zahl im nd-Interview.
Das Problem ist nur: Die Arbeiterklasse ist heterogener denn je, und sie hat nur wenig mit dem Bild vom Proletariat zu tun, das unseren Blick auf die Arbeiterklasse hierzulande noch immer prägt. Im Globalen Norden ist die Arbeiterklasse weiblicher, migrantischer und vor allem im Dienstleistungssektor und im Care-Bereich zu finden.
Im Globalen Süden oder den potenziell neuen Zentren des kapitalistischen Weltsystems – China und Indien – ist die Arbeiterbewegung kaum gewerkschaftlich oder politisch organisiert. Gleichwohl gibt es zahlreiche Arbeiterproteste. Die Soziologin Beverly J. Silver, die eine globale und historische Datenbank zu Arbeiterunruhen aufgebaut hat, spricht seit 2008 gar von einem »weltweiten Aufschwung von Arbeiterunruhen und Klassenkämpfen seit 2008«.
Sie hat dafür auch eine Erklärung: Durch die permanente Umwälzung der globalen kapitalistischen Produktion komme es zu Zersetzungen eta᠆blierter Arbeiterklassen und zur Herausbildung neuer Arbeiterklassen im globalen Maßstab. Die Kurzformel lautet: »Wohin das Kapital geht, dorthin folgt auch bald der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital.«
Da nicht in Sicht ist, dass das Kapital seinen Weg über den Globus beendet, wird sich die Weltarbeiterklasse permanent neu zusammensetzen.
aus: neues deutschland, 29.4.2019