Enteignungen sind im Kapitalismus alltäglich.
Droht hierzulande ein neuer sozialistischer Anlauf? Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert will Großunternehmen wie BMW kollektivieren, der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck sprach kürzlich von Enteignungen, die »notfalls« erfolgen müssten, und die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« sieht den Notfall längst gekommen. Konservative und neoliberale Meinungsführer überschlagen sich in ihren Reaktionen. So forderte die FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg, die SPD müsse »dringend ihr Verhältnis zum Eigentum klären«, und der Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler hatte getwittert: »Sozialismus fängt immer bei Grund und Boden an.«
Das vermittelt den Eindruck, als ob im Artikel 1 des Grundgesetzes nicht die Würde des Menschen, sondern das Eigentum für unantastbar erklärt wird. Ein Irrtum. Auch sieht Artikel 14 explizit eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit vor, und Artikel 15 macht Vergesellschaftungen möglich. Mehr noch: Das Grundgesetz schreibt keineswegs eine Wirtschaftsordnung vor. Das Bundesverfassungsgericht beschied 1954, dass eine freie Marktwirtschaft nach dem Grundgesetz möglich, aber »nicht die allein mögliche« sei. Und 1979 urteilte es, das Grundgesetz enthalte »keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung einer bestimmten Wirtschaftsordnung«.
Zu verstehen ist dies nur aus dem historischen Kontext. Nach dem Ende der Naziherrschaft war klar, dass das Großkapital mit den Faschisten gemeinsame Sache gemacht hatte. Sogar Teile der CDU und andere bürgerliche Parteien hofften, die volle Wiederherstellung großkapitalistischer Besitzverhältnisse verhindern zu können. Im Ahlener Programm der CDU in NRW hieß es 1947: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Tatsachen, an die manch Politiker heute ungern erinnert werden will. Doch die schroffen Reaktionen seitens FDP, CDU und CSU sind nachvollziehbar. Es geht um das Eingemachte der bürgerlichen Gesellschaft: die Eigentumsfrage. Da ist es nur logisch, dass die FDP und liberale Ökonomen »das Grundgesetz kapitalistisch auf Vordermann bringen wollen« (Heribert Prantl), indem sie Artikel 15 streichen oder umformulieren möchten.
Die Argumente der bürgerlichen Seite zeugen allerdings von Geschichtslosigkeit. Zwar hat FDP-Mann Schäffler recht mit seiner Analyse, wonach Sozialismus immer bei Grund und Boden anfange. Siehe beispielsweise die Landreformen in der Sowjetunion und der DDR. Aber das gilt für den Kapitalismus ebenso. Von Beginn an ist dessen Geschichte eine der Enteignungen. Zunächst wurden zahllose Bauern von ihren Arbeitsmitteln, von ihrem Grund und Boden, vertrieben. Marx beschrieb diesen gewaltvollen und blutigen Prozess als ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Man kann das auch eine ursprüngliche Enteignung nennen. Die Bauern mussten frei im doppelten Sinne werden. Frei von eigenen Produktionsmitteln und frei von persönlichen Abhängigkeiten. Das war die Voraussetzung dafür, dass sie in den entstehenden Fabriken als Lohnarbeiter beschäftigt werden konnten. Der auch Einhegung genannte Prozess wandelte das feudale Eigentum in eine dem Kapitalismus entsprechende Form um.
Mit der geografischen Ausweitung des Kapitalismus setzen sich Enteignungen bis heute fort, wenn etwa Großkonzerne im Globalen Süden Bauern und Indigene von ihrem Land vertreiben. Das Prinzip der ursprünglichen Akkumulation hat der Marxist David Harvey zudem auf Sphären innerhalb des Kapitalismus, die bislang dem Profitprinzip entzogen waren und mittels Privatisierungen diesem zugeführt wurden, übertragen. Er nennt das »Akkumulation durch Enteignung«. Ein Beispiel dafür: die Privatisierung kommunaler Wohnungen und deren Verkauf an finanzmarktorientierte Investoren.
Des Weiteren führen die Konzentrationsprozesse des Kapitals dazu, dass je ein Kapitalist viele totschlägt. Kapitalisten enteignen andere Kapitalisten. Auch der bürgerliche Staat expropriiert. In Deutschland traf es Landbesitzer, die das Pech hatten, dass ihr Boden Kohlevorkommen birgt oder einer geplanten Autobahn im Wege war. Allein für den Braunkohlebergbau mussten rund 370 Gemeinden weichen und 125 000 Menschen umgesiedelt werden. In Krisensituationen greift der Staat zudem in die Besitzverhältnisse des großen Kapitals ein. Das konnte man vor allem in den USA in der Finanzkrise von 2008 beobachten, in Deutschland wurde immerhin ein entsprechendes Gesetz erlassen.
»Privateigentum muss privat bleiben« – auch das hatte FDP-Politiker Schäffler getwittert. Erinnert sei daran, dass das lateinische Wort privare rauben heißt. »Geraubtes Eigentum muss geraubt bleiben«, lautete dann der Tweet. Das spricht für sich.
aus: neues deutschland, 4.5.2019