Roboter verändern alles. Und selbstredend sind Jobs in Gefahr. Ein Sammelband untersucht den Mythos
Wuppertal, März 1978: Die IG Druck und Papier streikt. Ein Modellschreiner fragt einen Streikposten, was die Druckarbeiter gegen die Einführung neuer Technologien hätten. Die Antwort: „Stellen Sie sich vor, ein neues Werkstück wird gebraucht und die frechen rechnergesteuerten Systeme sind auch in Ihrem Bereich vorhanden. Sie nehmen dann nur noch das Holz, den Leim und die Zeichnung des Modellstücks, geben das in den Computer, das fertige Stück kommt heraus.“ Der Schreiner ist geschockt: „Um Gottes willen, so geht das doch nicht!“ – und spendet fünf Mark für die Streikkasse.
Diese Anekdote aus einer Notzeitung gibt der Historiker Karsten Uhl im Sammelband Marx und die Roboter wieder. Sie ist bezeichnend. Zunächst dafür, dass die derzeit kursierende Angst davor, in Bälde seinen Job an Maschinen zu verlieren, alter Wein in neuen Schläuchen ist. Uhl zeigt, dass die Furcht vor der menschenleeren Fabrik seit dem späten 18. Jahrhundert, also seit der Industrialisierung, virulent ist. Selbst das Thema der Computerisierung ist Jahrzehnte alt. Die Druckerbranche war sehr früh, ab Mitte der 1970er, von Computertechnik betroffen. Der traditionelle Ausbildungsberuf des Schriftsetzers verschwand. Doch keineswegs wurden Zehntausende Schriftsetzer erwerbslos. Die Gesamtbeschäftigung in der Druckbranche blieb in der BRD zwischen 1976 und 2000 stabil bei etwa 225.000. Wie das?
Klassenkampf war ein Faktor. Gewerkschaften gelang es, tariflich zu regeln, dass Schriftsetzer acht Jahre nach Einführung der neuen Technik beschäftigt blieben. Zudem hielt sich die alte Technik gerade in kleinen Betrieben bis in die 80er. Und neue Jobs entstanden – allerdings überwiegend gering qualifizierte. Auch Kim Moody zeigt anhand der USA, dass Jobverluste niedriger ausfielen als angenommen. Er hat eine theoretische Erklärung dafür: kapitalistische Akkumulation. Es komme weniger darauf an, ob eine Tätigkeit durch eine neue Technik automatisiert werden könne. Entscheidend sei, ob deren Einsatz profitabel sei.
Marxy Marx
Moody erklärt die Ab- oder Zunahme der Beschäftigung deshalb nicht unmittelbar mit dem nur langsamen Einsatz von Robotern. Wichtig seien Schwankungen an den Absatzmärkten und Methoden der Arbeitsintensivierung. „Allgemein gesagt ist nach wie vor der Umfang der Produktion und der Verkäufe, also der Realisierung von Mehrwert, ein entscheidender Faktor des Beschäftigungsniveaus.“
Ein marxistische Ansatz prägt die meisten Beiträge. Florian Butollo und Sabine Nuss gehen vom Begriff der Produktivkraft aus. Die sei kein Selbstzweck, sondern Mittel der Kapitalakkumulation. Die Entwicklung der Produktivkräfte sei nicht exogen, sondern in das Kapitalverhältnis eingeschrieben, Entwicklung und Einsatz neuer Technologien stark von diesem Verhältnis geprägt. Der aktuelle Technologieschub müsse im Rahmen der Strategie des Kapitals verstanden werden. Der Produktivkraftbegriff verweist „die Digitalisierung auf einen, materialistisch betrachtet, bescheideneren Platz. Sie bietet sozio-technische Lösungen, die in historisch spezifische Akkumulationsstrategien integriert werden. Sie passt sich ein in Tendenzen der Flexibilisierung, Finanzialisierung, Prekarisierung und der systemischen Rationalisierung ganzer Wertschöpfungsketten …“
Man ist aber auch nicht unkritisch gegenüber Marx. Die Historikerin Dorothea Schmidt zeigt, dass dieser selbst die Folgen der Automatisierung überschätzte. So hielt etwa ein großer Teil der Unternehmen auch nach Erfindung der Dampfkrafttechnologie noch lange an Handarbeit fest.
Nach der Lektüre dieses Buches wissen wir, dass der Mainstream-Diskurs zur Automatisierung ein Technikdeterminismus ist: „Der Industrie-4.0-Diskurs ist in weiten Teilen vor allem Hype und interessegeleitete Werbeveranstaltung von Kapitalseite“, so Christian Meyer. Wer über Industrie 4.0 redet, braucht über Lean Production, niedrigere Löhne, Prekarisierung und ungleiche Verteilung von Arbeit, Zeit und Geld nicht zu sprechen. Der Digitalisierungs-Diskurs ist eine Zuchtrute für Lohnabhängige. Auch deshalb mag das Geld in der Streikkasse heute seltener klimpern. Aber bietet das digitale Zeitalter keinerlei emanzipatorisches Potenzial? Doch, zeigen Simon Schaupp und Georg Jochum. Dass der Markt am effektivsten Informationen sammeln und wirtschaftliche Prozesse steuern könne, war schon immer Ideologie. Obsolet in Zeiten von Big Data: Im Schoße des kybernetischen Kapitalismus haben sich Steuerungsmittel entwickelt, die neue Formen des bedürfnisorientierten und demokratischen Wirtschaftens ermöglichen.
Marx und die Roboter: Vernetzte Produktion, Künstliche Intelligenz und lebendige Arbeit Sabine Nuss / Florian Butollo (Hrsg.), Dietz Berlin 2019, 352 S., 20 €
aus: der freitag, Ausgabe 36/2019, 4.9.2019