Pattsituation

Gewiss: Die Wahl des ehemaligen indigenen Anführers der Kokabauern Evo Morales zum Präsidenten Boliviens im Dezember 2005 stellt für den kleinen Andenstaat eine Zäsur dar. Nie zuvor war ein Indigena Präsident des von einer sich als weiß verstehenden Oberschicht beherrschten Landes höchstes oberstes Staatsoberhaupt geworden.
Morales und seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) reiht sich seitdem ein in die Gruppe von nunmehr zehn Mitte-Links-Regierungen lateinamerikanischer Länder, die sich mal mehr, mal weniger vom Neoliberalismus abgrenzen oder gar eine explizit sozialistische Politik verfolgen. Viele der Parteien, die sich an den linken Regierungen beteiligen, haben ihre Wurzeln in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Ihre Regierungsbeteiligung stellt sie vor große Herausforderungen. Können sie die Ziele „ihrer“ Bewegungen trotz realpolitischer Verstrickungen, internen Spaltungen, Korruptionsaffären, außenpolitischen wie ökonomischen Bedingungen durchsetzen? Oder erliegen sie den Integrationsmechanismen des bürgerlichen Staates?

Am vergangenen Sonntag sind Morales und sein Vizepräsident Linera bei einer Volksabstimmung vermutlich – das amtliche Endergebnis wird erst Freitag verkündet – mit über 60% der Wahlberechtigten bestätigt worden. Obgleich dieses Ergebnis über dem seiner Wahl zum Präsidenten liegt (53,7%), kann nicht von einem uneingeschränkten Sieg gesprochen werden. Denn: Die vier Präfekten der nach Autonomie oder gar Separation strebenden vier östlichen Tiefland-Departments (auch Media Luna; dt.: Halbmond genannt) wurden ebenfalls im Amt bestätigt. Und diese sind einflussreiche Gegner der von Morales geführten linken Regierung.

Auf einer oberflächlichen Ebene erscheint der Konflikt als einer zwischen Präsident und Präfekten, die mit den bundesdeutschen Ministerpräsidenten verglichen werden können, bzw. als ein Konflikt zwischen Westen und Osten. Doch dahinter verbergen sich strukturelle sozi-ökonomische Interessenkonflikte und ein Streit über die grundsätzlich politische Ausrichtung Boliviens.

Nach dem Niedergang des Bergbaus in den westlichen Hochlandregionen erfuhren die ehemals aus eben diesen subventionierten Departments der östlichen Tieflandregionen durch die Erschließung von Öl- und Gasreserven einen ökonomischen Aufschwung. Infolgedessen und aufgrund einer modernen, zum Teil industrialisierten Land- und Forstwirtschaft sowie eines wachsenden industriellen Sektors entwickelte sich ein einflussreiches Bürgertum. Da dessen ökonomisches wie politisches Gewicht wesentlich auf dem Großgrundbesitz beruht, stehen sie – wie andere ökonomische Eliten auch – für die Fortführung neoliberaler Reformen ein.

Das bringt sie zwangsläufig in Konflikt mit der erklärtermaßen sozialistischen Politik der MAS-Regierung. Diese hatte sich nicht nur außenpolitisch eng an die ebenfalls sozialistisch orientierten Länder Kubas und Venezuelas gebunden und war der als Gegeninitiative zu westlichen Vormachtbestrebungen gedachten ALBA-Initiative beigetreten. Sie hatte überdies im Mai 2006 die gesamte Erdöl- und Gasindustrie nationalisiert. Auf diese Weise konnte die Zentralregierung in La Paz die Steuereinnahmen binnen weniger Jahre vervierfachen, was auch auf den gegenwärtigen Rohstoffboom zurückzuführen ist.

Es wurden erste sozialpolitische Maßnahmen wie Alterspensionen finanziert. Zwar ist noch keine substanzielle Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen zu verzeichnen, doch ein bedeutender sozio-kultureller Wandel ist im Werden begriffen, der sich vor allem durch das selbstbewusstere Auftreten der indigenen Bevölkerung ausdrückt. In diesem Kontext muss auch die neue Verfassung erwähnt werden, die den indianischen Ureinwohnern mehr Rechte zuspricht. Darüber hinaus wurde eine Begrenzung des Großgrundbesitzes von Einzelpersonen beschlossen (die allerdings noch durch ein Referendum bestätigt werden soll).

Kein Wunder also, dass die zumeist weiße unternehmerische Oligarchie dieser Entwicklung feindselig gegenübersteht. Sie sieht sich ihrer Verfügungsgewalt über den Reichtum beraubt und von der Regierung im Osten gegängelt. Gleichwohl sollte man die politischen Konfliktlinien nicht übertreiben: In Bolivien geht es aktuell nicht um die Einführung des Sozialismus. Die neue Verfassung tastet das Privateigentum nicht an, sie erinnert lediglich – Ähnliches kennt man aus dem deutschen Grundgesetz – an die Erfüllung seiner sozialen Verpflichtung. Die bislang erfolgte Nationalisierung der Bodenschätze – auch das ist laut deutschem Grundgesetz möglich – trägt zur Umverteilung der Bodenschätze bei. Aber allein dies ist in einem Land, in dem „die Oligarchie am liebsten mit der ‚Tropenbourgeoisie‘ Miamis verschmelzen würde“, entschieden zu viel, wie Hugo Velarde im Freitag schreibt (8.8.2008)

Die Konsequenz: Forderungen der Media Luna-Departments nach Autonomie nehmen seit wenigen Jahren zu. Und die Präfekten beließen es nicht bei Forderungen: Im Mai und Juni 2008 ließen sie Volksbefragungen über den Autonomiestatus durchführen, obwohl diese vom obersten Wahlgericht des Landes untersagt worden waren. Die Regierung Morales hatte zum Boykott dieser Abstimmungen aufgerufen. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Autonomie. Die Ergebnisse brachten Mehrheiten, die sich für die Autonomie aussprachen, obgleich die Wahlbeteiligung lediglich bei 53 bis 66% lag.

Hinzu kommt noch, dass diese Konflikte entlang ethnischer Kriterien ausgetragen werden – die Bewohner der östlichen Tieflandgebiete verstehen sich als weiß und europäisch, die der westlichen Hochlandregionen sind indianischer Abstammung. Auch von radikal indianistischen Strömungen übrigens wird als Ziel ein homogen indigener Staat angestrebt. Nicht selten wird die Grenze zum Rassismus überschritten. So beschimpfte etwa Rubén Costas, der mit über 70% im Amt bestätigte Präfekt von Santa Cruz, Morales als Affen und kündigte an, das Projekt der neuen „illegalen und rassistischen“ Verfassung verhindern zu wollen.

Die Regierung Morales hatte sich von dem „Abberufungsrefendum“ einen Befreiungsschlag erhofft. Diese Hoffnung dürfte sich nicht ganz erfüllt haben, doch kurzfristig ist sie gestärkt. Die spannende Frage ist nun, wie der Konflikt zwischen der bestätigten sozialistischen Zentralregierung und den gleichfalls bestätigten alten Eliten in östlichen Departments weitergehen wird.

Schon hat der Präfekt des Departments Cochabamba, der nur 33,9% Unterstützung erhielt, erklärt, seine Niederlage nicht anerkennen zu wollen. Morales hingegen kündigte an, einen neuen Dialog zwischen Regierung und Regionalverwaltungen anzustreben, der die neue Verfassung mit den Autonomiebestrebungen in Einklang zu bringen sucht. Nicht zuletzt an dieser Frage wird sich entscheiden, inwieweit die „Regierung der sozialen Bewegungen“ (Morales) die Ziele ihrer Basis tatsächlich durchsetzen kann.

(aus: www.sozialismus.de)

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