Mit der Ironie ist es so eine Sache: Sie will verstanden werden, und das Verstehen ist abhängig von der Wahl der Perspektive und von Interessen. Ein Beispiel hierfür lieferte die US-amerikanische Handelsbeauftragte Susan Schwab in ihrer Reaktion auf das Scheitern der Mini-Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf am Abend des 30. Juli: Angesichts einer globalen Krise der Nahrungsmittelpreise sei es ironisch, dass die Debatte sich darauf reduziert habe, wie viel und wie rasch es den Staaten gestattet sein solle, ihre Barrieren zu erhöhen, um Lebensmittelimporte zu behindern.
Folgt man dem – von Empirie und geschichtlicher Erfahrung nicht zu erschütternden – neoliberalen Glaubenssatz, wonach Wohlstand nur durch Freihandel zu erlangen sei, dann mag man die Ironie dieser Interpretation des Scheiterns der Genfer WTO-Runde nachvollziehen. Denn dieser Sichtweise zufolge ist eine Linderung der aktuell verschärften Hungerkatastrophe infolge der drastisch gestiegenen Lebensmittelpreise nur durch eine weitere Liberalisierung des Welthandels zu erreichen.
Eine andere – und zweifellos der Realität eher entsprechende – Perspektive vertritt indessen die Ansicht, dass die Hungerkatastrophe gerade im Wesentlichen auf Liberalisierungsmaßnahmen zurückzuführen sei.
Vorzugeben, die Ernährungskrise mit der WTO lösen zu können – so die globalisierungskritische Kleinbauernvereinigung Via Campesina –, sei so, wie den falschen Doktor zu rufen und die falsche Medizin zu nehmen. Von Ironie kann also für die Millionen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die sich angesichts von Billigimporten aus den entwickelten kapitalistischen Staaten in ihrer Existenz bedroht sehen, keine Rede sein. Für sie sind Importbeschränkungen schlichtweg lebenswichtig. Das Insistieren vor allem des indischen Handelsministers Nath auf Zugangsbeschränkungen westlicher Agrarerzeugnisse ist im Interesse der 600 Millionen indischen Kleinbauern überaus verständlich.
Doch kann das Scheitern der Handelsliberalisierung mittels der WTO aus emanzipatorischer Sicht als Erfolg gewertet werden, wie es zum Beispiel Vertreter der globalisierungskritischen Bewegung wie Walden Bello angesichts des In-Stockens-Geratens der Verhandlungen vor fünf Jahren in Cancún getan haben? Ist der Abbruch der Verhandlungen ein Erfolg der Globalisierungskritiker, die es geschafft haben, die Regierungen in vielen Ländern „einzuschüchtern“ und den Freihandel in Verruf zu bringen, wie die FAZ in ihrer Kommentierung schreibt?
Gegen diese Bewertung spricht folgendes: Bereits seit 2001 stecken die Verhandlungen über weitere Liberalisierungsmaßnahmen im Rahmen der WTO in einer Krise. Vor diesem Hintergrund sind vor allem die EU und die USA dazu übergegangen, der multilateralen Strategie eine bilaterale und regionale Strategie zur Liberalisierung hinzufügen.
Innerhalb der EU wird diese Strategie Multi-Bi genannt. Sie steht für Fortsetzung der multilateralen WTO-Verhandlungen bei gleichzeitiger Fokussierung auf bilaterale Verhandlungen. Dazu gehören auch die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA), die gerade von den afrikanischen Staaten im Dezember 2007 massiv kritisiert worden waren (vgl. die Kommentare „Hohle Worte“ vom 9.10. und „‚Neue Partnerschaft‘ oder neo-koloniale Praktiken?“ vom 13.12.2007).
In einer Studie aus dem Vorjahr kam die NGO Oxfam zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt der letzten zehn Jahre etwa zwei bilaterale Abkommen pro Woche vereinbart wurden, mit der Folge, dass gegenwärtig etwa 30% des Welthandels durch 250 regionale und bilaterale Abkommen geregelt werden. Dieser Regionalisierungsschub geht mit einer weiteren Machtverschiebung zugunsten der mächtigen Industrieländer einher.
Denn, so Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf in ihrem Buch „Konkurrenz für das Empire“, in bilateralen und regionalen Verhandlungen kommen deren Interessen deutlich stärker zum Tragen als die der weniger entwickelten Länder. Diese These zuspitzend schreiben sie: „Die WTO als eine Organisation der globalen Regulation wird also von einer imperialen Strategie ergänzt. Die Länder des Südens werden nun nicht nur dem Regelwerk der WTO unterworfen, sondern sie werden von der EU (und von den USA) handelsimperialistisch in bilaterale Verträge exklusiv eingebunden.“ Übrigens gelten ihnen hier die EU noch vor den USA als treibende Kraft.
Die Entwicklungsländer wiederum gehen auf diesen Bilateralismus ein, weil ihnen angesichts ihrer geringen politischen Macht schlicht nichts anderes übrig bleibt und zudem versprechen sie sich angesichts der Undurchschaubarkeit der WTO-Verhandlungen eine größere Transparenz.
De facto ist also in den letzten Jahren trotz Krise der Doha-Runde längst eine Weichenstellung hin zu massiven Verschärfungen der Liberalisierungsregeln in den Bereichen Agrarprodukte, Dienstleistungen und Handel mit Industriegütern erfolgt.
Das jetzige – nach überwiegender Meinung endgültige – Scheitern der WTO bzw. Doha-Verhandlungen wird insofern diesen eh schon existenten Prozess fortsetzen, von dem, wie selbst die FAZ schreibt, vor allem die stärkeren Handelspartner profitieren.
Zwar mag die neoliberale Ideologie des Freihandels tatsächlich an Überzeugungskraft eingebüßt haben, das ändert jedoch noch nichts an ihrer nun zunehmend bilateralen und regionalen materiellen Umsetzung. Dieser Widerspruch zwischen hegemonialen Substanzverlust und tatsächlicher Durchsetzung sollte kenntlich gemacht und als Chance begriffen werden, alternative Konzepte in die Diskussion zu bringen.
(aus: www.sozialismus.de)