Die Ausstellung »Gute Aussichten 2019/2020« in den Hamburger Deichtorhallen fragt, welchen Bildern überhaupt noch zu trauen ist
Im ersten Moment wirken die Bilder wie Schlachtengemälde der alten Meister. Tritt man näher, bemerkt man jedoch, dass nichts klar zu erkennen ist. Hier der Umriss eines Maschinengewehrs, dort der eines Pick-ups mit bewaffneten Männern. Aber es könnte auch etwas anderes sein. Man ist förmlich gezwungen, in das Bild hineinzutauchen. Aber selbst dann: keine klaren Antworten, nur weitere offene Fragen.
Damit hat Lisa Hoffmann, die Erschafferin der Werkreihe »Atlas der Essenz« erreicht, was sie wollte: uns zu zwingen, Bilder von Konflikten und Kriegen zu hinterfragen. Hoffmann, die selbst als Kriegsfotografin tätig war, ist sich der Macht von Bildern aus Afghanistan, Syrien oder Libyen bewusst. Diese präsentieren nur einen Ausschnitt einer vielschichtigen Wahrheit; oft sind sie manipuliert und Teil einer politischen Inszenierung – schlicht Propaganda. Die Bilder dienen nicht der Aufklärung, sondern der Täuschung und Verschleierung, werden zu Waffen im Medienkrieg.
Um das deutlich zu machen, hat die junge Künstlerin von der Muthesius Kunsthochschule Kiel in sozialen Netzwerken, im Internet und Bilddatenbanken nach Fotos von Kriegen und Katastrophen recherchiert und dann je 50 bis 100 Bilder übereinandergelegt. Ihr Gedanke dabei: Wenn jedes Bild einen spezifischen Ausschnitt, eine besondere Sichtweise, Position, Absicht festhält, müsste die Summe aller Abbildungen ein vielschichtiges Bild erzeugen. Doch dem ist nicht so. Hoffmann stellt damit die Möglichkeit infrage, sich ein »wahres Bild« von Ereignissen zu machen.
Diese Skepsis teilt sie mit anderen jungen Fotograf*innen und Künstler*innen, deren Werke derzeit in der Ausstellung »Gute Aussichten 2019/2020« in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen sind. Das Motto, das verbindende Thema der neun Preisträger des renommierten Nachwuchspreises für Fotografie lautet daher: »Krieg und Frieden in Zeiten globaler Desinformation«. Und Hoffmanns »Atlas der Essenz« ist das paradigmatische Werk dieses roten Fadens. Die Werke der diesjährigen Preisträger*innen beschränken sich dabei nicht auf Fotos, sondern beinhalten auch multimediale wie klassische Installationen, Videos oder statistisches Material.
Larissa Rosa Lackner von der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig zum Beispiel präsentiert ihr Werk »Heide« vornehmlich als Video, neben Archivmaterial, Fotos und Objekten. Vordergründig geht es um die Frage, wer die junge Frau namens Heide Pleschke ist, die in der DDR der 1980er Jahre Steine auf den Äckern der LPG Große Fredenwalde auflesen musste. In dem Video sieht man Zeitgenossen von Heide, die über die als unnahbar charakterisierte Frau zu berichten wissen, dass sie offenbar bestraft worden ist, weil sie mit einem Mann angebändelt hat. Doch eigentlich geht es ähnlich wie bei Hoffmann um die Frage, wem oder was man überhaupt noch glauben kann. Die Künstlerin wird im Katalog der Ausstellung mit den Worten zitiert: »Mich beschäftigt schon lange die Frage danach, wie Geschichten erzählt werden, und welcher Erzählformen es bedarf, um einer Geschichte zu glauben. Immer mehr Dokus und Serien erscheinen beispielsweise auf Netflix, die für wahr gehalten werden, weil man den ›originalen Tonbandmitschnitt‹ mit anhören kann.«
Am irritierendsten sind ohne Zweifel die Fotos Malte Sängers. Mit einer Infrarotkamera hat er den Augenblick abgelichtet, in dem Benutzer*innen von Handys mit Gesichtserkennung ihr Smartphone entsperren. Normalerweise unsichtbar wird auf diese Weise sichtbar, wie die moderne digitale Technik uns permanent überwacht. Das Ergebnis: Aufnahmen von rötlichen Gesichtern, die von Tausenden Lichtstrahlen angestrahlt werden. Sänger hat diese Arbeit in Anlehnung an die griechische Mythologie »DAEMONs« genannt. Daimones galten als Geisterwesen, die unsichtbar Einfluss auf das Handeln und Sein der Menschen nahmen. Sind die Algorithmen die Dämonen der digitalen Gegenwart, scheint uns Sänger zu fragen. Ja mag die Antwort lauten – zumal in der IT-Fachsprache Betriebssystem-Programme, die das Verhalten der Nutzer*innen überwachen, DAEMON genannt werden.
Explizit politisch – der Ausstellungstext spricht gar vom »fotografischen Aktivismus« – nimmt sich die Arbeit von Markus Seibel von der Hochschule Darmstadt aus. In »Europas Herbst« zeigt er mit künstlerischen Mitteln, was spätestens seit 2015 immer offenkundiger geworden ist: Die EU schreibt sich Menschenrechte, Demokratie und Freiheit auf die Fahnen, baut aber die Festung Europa weiter aus – und ist so mitschuldig an den laut UNHCR jährlich rund 1500 Menschen, die auf ihrem Weg nach Europa sterben.
Was bleibt von den Toten, was lassen sie zurück? Manchmal nur Decken, Schlafsäcke oder Wasserflaschen. Diese Gegenstände sind als Stillleben auf Seibels Fotos zu sehen. Zwei weitere Elemente seiner Präsentation könnten gegensätzlicher nicht sein. Eine Wandtapete listet in statistischer Form auf, wann, wo und wie Geflüchtete gestorben sind. Dürre Fakten, die das Schrecken nur erahnen lassen. In Videofilmen und Diaprojektionen bekommt dieses dann ein Gesicht. Plötzlich ist der Betrachter mitten im Geschehen, wird Zeuge, wie der »Dschungel« von Calais von der französischen Polizei geräumt wird, sieht, wie Geflüchtete schlecht ausgerüstet im Schnee versuchen, die Alpen zu überqueren, in Lagern leben oder es auf Schlauchbooten endlich an die Küste Europas schaffen.
Auch die Exponate der weiteren Künstler*innen sind überaus sehenswert. Mit Themen wie jugendliche Identitäten oder feminine Ideale spiegeln sie ebenfalls aktuelle gesellschaftspolitische Debatten wider.
»Gute Aussichten. Junge deutsche Fotografie 2019/2020«, bis 30. August, Deichtorhallen, Deichtorstraße 1-2, Hamburg.
aus: neues deutschland, 14.07.2020