Das Epizentrum touristischer Dystopien

Lois Hechenblaikners Bildband über den Tiroler Party-Skiort Ischgl

Wer grenzenlose Enthemmung im Winterurlaub suchte, für den war Ischgl in Tirol eine der Top-Adressen. Und dann kam Corona … Eine wunderbare Alpenlandschaft, die besten Pisten und modernsten Skilifte – alles ganz nett und eine notwendige Voraussetzung, aber keineswegs ausreichend für hormonelle und alkoholbedingte Exzesse. Dazu braucht es das gewisse Etwas, sprich: Etablissements wie »Kuhstall«, »Kitzloch« oder »Schatzi Bar«, in denen der Alkohol in Strömen fließt.

Gelockt werden die Gäste schon mal mit Plakaten, auf denen zur Jagd auf leicht bekleidete »Schihaserl« geblasen wird. Sind die Urlauber erst einmal auf Betriebstemperatur, können sie ordentlich gemolken werden. Die Rechnung für den Champagner kann sich bei den neureichen Besuchern aus ganz Europa durchaus auf mehrere Tausend Euro belaufen.

Bis in die 1960er Jahre waren die Bewohner des Paznaun im Westen Österreichs, wo Ischgl liegt, bettelarm. 100 Jahre zuvor hatten sie noch ihre Kinder als Billigarbeiter in den Süden Deutschlands geschickt. Dort hatten sie zumindest einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Als Mitte der 60er Jahre mit dem ersten Skilift der Grundstein für den Massentourismus gelegt wurde, werden die Bauern nicht geahnt haben, welches Schreckensausmaß dieser in ihrem Dorf einmal annehmen würde. Sie erhofften sich durch den Tourismus einen Weg aus der Armut. Das ging in Erfüllung. 250 Millionen Euro Umsatz werden heute in Ischgl jährlich gemacht. 1,4 Millionen Übernachtungen zählt das Dorf mit seinen nur 1600 Einwohnern.

Lois Hechenblaikner, 1958 in der Nähe von Ischgl geboren, hat die »Disneylandisierung« seiner Heimat, die damit einhergehende »schrankenlose Industrialisierung« der Berge selbst erlebt und fotografisch dokumentiert. Sein jüngstes Buch »Ischgl« versammelt eine Auswahl aus 26 Jahren und rund 9000 Fotos. Es zeigt, wie aus dem ehemaligen Bergbauerndorf eine »Partnergemeinde von Sodom und Gomorrha«, ein »alpiner Ballermann« werden konnte.

Es sind Bilder voller enthemmter, feucht-fröhlicher Partyszenen. Es werden Trinkspiele veranstaltet, mit Bier und Sekt herumgespritzt und Tänzerinnen begrapscht. Hechenblaikner hat Bilder von Alkoholleichen ausgesucht, von jeder Menge Partymüll und von Massenevents. Auf manchen seiner Fotos tragen Männer Dildos in der Hand und leben ihre Vergewaltigungsfantasien an einer Sexpuppe aus. Männergruppen haben sich einheitlich gekleidet – mit T-Shirt-Aufschriften wie »Fotzen Ischgl Wo«, »Skiing and Beer – Thats why Im here« oder »Bei Orientierungslosigkeit bitte abliefern in Pension Bergfrieden«.

Diese Bilder irritieren, aber der Fotograf führt die Personen nicht vor, er dokumentiert, und man kann sogar so etwas wie Entfremdungskritik herauslesen. Menschen, die diese Art Urlaub nötig haben, scheint offensichtlich etwas Essenzielles zu fehlen. Treffend ist es daher, dass Stefan Gmünder in seinem Nachwort aus Hans Magnus Enzensbergers »Theorie des Tourismus« zitiert: »Der Tourismus, ersonnen, um seine Anhänger von der Gesellschaft zu erlösen, nahm sie auf die Reise mit. Von den Gesichtern ihrer Nachbarn lasen die Teilnehmer fortan ab, was zu vergessen ihre Absicht war. In dem, was mitfuhr, spiegelte sich, was man zurückgelassen hatte.«

Günther Aloys, Hotelier aus Ischgl und gesegnet mit dem Talent, die Après-Ski-Unkultur auf griffige Formeln zu bringen (die Manager sollten mit dem Penis denken), charakterisierte den »neuen Gast« einmal als »eitlen, körperbewussten, ungehorsamen, schönheitsfanatischen Egoisten«. Aus seiner Vision, Ischgl zu einem »Epizentrum touristischer Utopien« zu machen, ist eine Dystopie geworden – und nicht erst seit Corona, als Ischgl zur Drehscheibe der Verbreitung des Sars-CoV-2-Virus wurde.

Gelegentlich setzt Hechenblaikner auch andere Akzente. Doppelseitige Bilder von Skifahrern auf der Piste zeigen die Schönheit der winterlichen alpinen Bergwelt. Das ist wohltuend angesichts der massiven Traurigkeit, die die meisten hier versammelten Bilder vermitteln. Doch natürlich weist der Fotograf umgehend auf die Schattenseite dieses Skivergnügens hin: Man sieht Bagger, die die Landschaft dem Skisport gemäß zurichten.

»Relax. If you can« – dieser offizielle Slogan, mit dem Ischgl wirbt, wirkt wie ein Warnruf. Die Gemeinde versuchte bereits vor Corona umzusteuern, wegzukommen vom exzessiven Massentourismus. Ob es ihr gelingt, bleibt abzuwarten. 250 Millionen Euro Jahresumsatz – da dürften die Widerstände erheblich sein.

aus: nd – der Tag, 13.10.2020

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