Die deutsche Staatsverschuldung ist infolge der Corona-Pandemie nach oben geschnellt. Das ist keine Abweichung von der im Grundgesetz festgelegten Schuldenbremse, da diese neue Schulden im Falle von Naturkatastrophen oder von wirtschaftlichen Einbrüchen zulässt. Allerdings sieht das Grundgesetz in diesem Falle die schnelle Tilgung der Schulden vor. Und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) verspricht zu liefern. Ab 2022 soll es keine neuen Schulden mehr geben.
Wenn die neue Bundesregierung im Amt ist, könnte also der Rotstift regieren. Denn bereits jetzt ist absehbar ist, dass ein Staatshaushalt ohne erneue Schuldenaufnahme Streichungen zur Folge hat. Angesichts der rund zehn Jahre zurückliegenden »EU-Hilfsprogramme« für Griechenland, Spanien und Irland ist die Forderung nach einer Rückkehr zum ausgeglichenen Staatshaushalt eine erstaunlich geschichtsvergessene. Denn durch die an Sparauflagen gekoppelten Kredithilfen verschärfte sich der wirtschaftliche Absturz drastisch, und in der Folge stieg die Staatsverschuldung stark an.
Wieso wird dennoch ernsthaft über eine Rückkehr zur Normalität der Schuldengrenze geredet? Das hat damit zu tun, dass sich in Wirtschaftsfragen in Deutschland kaum ein Mythos so hartnäckig hält wie der, dass – von Ausnahmesituationen einmal abgesehen – Staatsschulden schlecht sind und ein ausgeglichener Haushalt gut ist. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass Schulden stets auch Werte und Vermögen gegenüberstehen. Beim Staat können das kreditfinanzierte Straßen, Schulen und Krankenhäuser sein oder Corona-Hilfen. Bei Privathaushalten ist es ähnlich. Dem Immobilienkredit steht der Wert des Eigenheims gegenüber.
Hier endet aber auch schon die Gemeinsamkeit zwischen Privat- und Staatshaushalt. Die Unterschiede überwiegen. So hat eine Einzelperson mit der Rente weniger Einkommen, mit dem Tod fällt es komplett weg. Ein Staat geht nicht in Rente und stirbt nicht. Er kann dauerhaft – über Generationen hinweg – mithilfe von Steuern Einkommen erzielen. Er kann sie sogar erhöhen, um Schulden zu bedienen. Das Staatsdefizit muss daher nicht abgebaut werden. Der Staat muss lediglich darauf achten, dass das Verhältnis zwischen Steuereinnahmen und Schuldendienst nicht aus dem Ruder läuft. De facto lösen daher Staaten alte Kredite oft mit neuen ab. Die USA haben nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie irgendwelche Schulden zurückgezahlt, Deutschland ab 2014 nur sehr wenige.
Darüber hinaus hat ein Staatsbudget aufgrund seines Umfanges Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Situation, der Haushalt der »schwäbischen Hausfrauen« – Symbol des deutschen Fiskalkonservatismus – nicht. Letztere kann monatlich 250 Euro weniger auszugeben – und dann spart sie tatsächlich. Ein Staat kann beschließen, im nächsten Haushalt 250 Millionen Euro weniger einzuplanen. Ob er dann tatsächlich spart, ist aber längst noch nicht ausgemacht. Wenn er bei den Transfereinkommen spart, hat das zur Folge, dass Hunderttausende Jobsuchende weniger für Nahrung, Kleidung und Freizeit ausgeben können. Die weggebrochene Nachfrage bedeutet für die Nahrung, Kleidung etc. herstellenden Unternehmen Umsatzverluste. Sie zahlen weniger Steuern und entlassen Beschäftigte, die auf Arbeitslosengelder angewiesen sind. In der Folge erhöhen sich die Ausgaben des Staates. Und umgekehrt: Mehrausgaben können dazu führen, dass der Staat spart. Wenn zum Beispiel Konjunkturpakete finanziert werden, die Jobs schaffen und den Unternehmen gute Rendite bringen. Dann nimmt der Staat mehr Steuern ein und spart sich die Unterstützung von zusätzlichen Erwerbslosen.
Das heißt nicht, dass Schulden per se gut sind, es kommt vielmehr auf eine genaue Analyse des ökonomischen Umfeldes an (Zinssätze, Wirtschaftswachstum, Beschäftigung etc.). Was etwa die Zinssätze betrifft, herrschen für die Kreditaufnahme seit einem Jahrzehnt geradezu paradiesische Bedingungen, sprich Null- oder gar Minuszinsen. Aus diesem Grund sehen derzeit auch bis dato fiskalkonservative Ökonom*innen die Schuldenbremse immer kritischer. Ihr Argument: Wenn der Staat sich bis auf Weiteres quasi umsonst verschulden kann, dann sollte er das auch tun und endlich in die marode Infrastruktur investieren. Ja, aber: Vererben wir unseren Enkeln dann nicht einen Haufen Schulden? Nein, wir vererben ihnen gute Krankenhäuser und Schulen und im besten Falle eine moderne Infrastruktur, die Anstoß für den sozial-ökologischen Umbau ist. Und übrigens: Nicht nur die Schulden werden weitervererbt, sondern auch die (niedrigen) Zinsansprüche auf Kredite.
aus: analyse & kritik 664, 20.10.2020