Das Hamburger Museum der Arbeit widmet sich der deutschen Kolonialvergangenheit und ihren Folgen
Immer wieder sind die konkreten Beispiele für das Fortdauern des Rassismus der Nazis überraschend – an Orten, wo man ihn spätestens nach 1968 nicht sofort vermuten würde: an Universitäten. So wurde bis 1997 am humanbiologischem Institut der Universität Hamburg eine Vorlesung mit dem Titel »Rassenkunde des Menschen« abgehalten. Diese irritierende Information gibt die Ausstellung »Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand« im Hamburger Museum der Arbeit.
Die Ausstellung kommt zur richtigen Zeit. Nur wenige Monate, nachdem die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA Kolonialdenkmäler stürzte und den rassistischen Normalzustand anprangerte, wartet Hamburg mit einer Ausstellung auf, die die koloniale Vergangenheit nicht nur der Hansestadt ins rechte Licht rückt. Sie greift darüber hinaus in die Diskussionen über Rassismus und die Folgen kolonialer Herrschaft für die gegenwärtige Ökonomie ein. Auch der Ort könnte passender nicht sein. Das Museum der Arbeit befindet sich in dem Gebäude einer ehemaligen Gummiwarenfabrik im Stadtteil Barmbek. Hamburger Unternehmen waren europaweit führend in der industriellen Verarbeitung von Kautschuk, tropischen Ölen und Fetten, Kakao und Elfenbein – und damit Hauptprofiteure des Kolonialsystems.
Den Betrachtenden empfangen eingangs große Videoleinwände, auf denen harmlose Alltagsszenen oder -gegenstände zu sehen sind. Eine U-Bahntür schließt sich, man sieht Gummireifen oder den Hafen der Kaufmannsstadt Hamburg, das sogenannte Tor zur Welt. Dann – unvermittelt – Bilder von getöteten Elefanten und eine Einblendung der Lyrics von »Strange Fruits«, dem berühmten Song, den Billie Holliday 1939 erstmals vortrug, der die Lynchmorde in den US-Südstaaten anprangert: »Southern trees bearing strange fruit / Blood on the leaves and blood at the roots / Black bodies swinging in the southern breeze«.
Spätestens hier wird klar: Der vermeintlich harmlose Autoreifen, das Gummi zum Abdichten der U-Bahntür – dies sind Produkte, die ihren Ursprung in kolonialer Ausbeutung und Zwangsarbeit haben, sie beruhen auf Leid und Tod von Menschen andernorts.
Es geht nicht nur um Kautschuk oder die bekannten Kolonialwaren wie Kakao, Tee oder Zucker. Es geht um zahlreiche Produkte des täglichen Bedarfs, die in der Schau in Regalen präsentiert werden. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die benötigten Rohstoffe nicht aus Europa stammen und keine Assoziationen zur kolonialen Ausbeutung hervorrufen. Wer bringt schon einen Hartgummi-Kamm mit Plantagen in Kamerun zusammen, wer Margarine oder Christbaumkerzen mit Nigeria oder Seife mit Samoa? Wer Billardkugeln oder Klaviertasten mit zu Tausenden getöteten Elefanten und Elfenbein-Karawanen?
All das ist keineswegs ein Phänomen der Vergangenheit. Damals wie heute beruht der Wohlstand des Globalen Nordens auch auf Rohstoffen und Ausbeutung des Globalen Südens. Der Supermarkt ist gewissermaßen der neue Kolonialwarenladen.
Die im Globalen Norden viel gehegte Hoffnung, dass in den USA und Europa Elektroautos den Verkehr klimaschonender machen, wird in der Ausstellung durch eine Weltkarte konterkariert: Auf ihr sind die Herkunftsorte der benötigten Rohstoffe für die Batterieproduktion verzeichnet. Kein einziger stammt aus Europa. Allerdings werden die gegenwärtigen Formen der Ausbeutung eher angedeutet als detailliert aufgezeigt. Eine Ausnahme sind die Fotos von G.M.B. Akash aus Bangladesh, die Szenen aus Werkstätten und Fabriken zeigen, in denen Kinder arbeiten.
»Grenzenlos« legt großen Wert auf den Widerstand gegen den Kolonialismus. Denn obwohl wenig über diesen bekannt ist, gab es ihn fortwährend. Versklavte Arbeiter*innen flohen von den Plantagen, streikten, organisierten gewaltsame Proteste und führten Kriege. Beispielsweise kämpften von 1905 bis 1907 20 Gesellschaften im Süden Deutsch-Ostafrikas gegen das deutsche Kolonialreich. 75 000 bis 300 000 Menschen kamen dabei um. Die Namen dieser Widerständler sind meist unbekannt, weil die kolonialen (Bild-)Archive sie nicht verraten.
Die Schau konzentriert sich daher auf die literarische, philosophische und politische Verarbeitung dieses Widerstandes. So sind große Porträts auf Stoffbahnen unter anderem der Schriftsteller James Baldwin, Chinua Achebe oder May Ayim zu sehen – oder vom kommunistischen Schwarzen Politiker George Padmore, der 1930 die erste Konferenz Schwarzer Arbeiter*innen in Hamburg organisierte, und von Chico Mendes, dem Gründer der Landarbeitergewerkschaft im Acre-Gebiet Brasiliens.
Bewusst nicht gezeigt werden Folter- und Gewaltszenen – im Gegensatz zu Szenen kolonialer Arbeit. Wo diese Bilder hätten sein müssen, sieht man lediglich schwarze Flächen, die mit erläuternden Bildunterschriften versehen sind. Der Grund dafür ist nachvollziehbar: Eine erneute Demütigung der Opfer des kolonialen Systems soll vermieden werden. Doch verliert die Ausstellung auf diese Weise an Wirkung, weil das wahre Ausmaß des Leids nur angedeutet wird. Möglich, dass gerade bei Schülerinnen und Schülern ein emotionaler Anstoß unterbleibt, der Ausgangspunkt einer tieferen Beschäftigung mit dem Kolonialismus hätte sein können.
Das Beispiel von Abel Meeropol, des Texters und Komponisten des erwähnten Songs »Strange Fruits«, zeigt, was Bilder bewirken können. Als er das 1930 aufgenommene Foto der Lynchmorde an den beiden Schwarzen Thomas Shipp und Abram Smith sah, ließ ihn es für Tage nicht mehr los. In der Folge schrieb er ein Gedicht, aus dem dann der Song entstand, der zum frühen Symbol der Anklage gegen die Ungerechtigkeit des rassistischen Systems in den USA wurde.
»Grenzenlos. Kolonialismus, Industrie und Widerstand«, Museum der Arbeit, Hamburg, bis 11. April 2021
aus: nd – der Tag, 27.10.2020