Seit Jahrzehnten sterben täglich 20.000 Menschen an den Folgen von Hunger. Doch sie hungern und sterben nicht etwa, weil es zu wenig Lebensmittel gibt, sondern weil sie deren Marktpreise nicht zahlen können. »Hungerkatastrophen sind (demnach) soziale Krisen, die das Versagen spezifischer ökonomischer und sozialer Systeme widerspiegeln,« wie der Begründer der »politischen Ökologie des Hungers« Michael Watts schreibt. Die Normalität kapitalistischer Verhältnisse taugt freilich nicht, um etwa die Agenda einer Tagung des Internationalen Währungsfonds (mit)zubestimmen. Dazu kommt es erst, wenn der Gang der kapitalistischen Ökonomie dazu führt, dass infolge der drastisch gestiegenen Lebensmittelpreise und Hungerrevolten Regierungen gestürzt werden – so wie jüngst in Haiti – und überdies ähnliches für eine weitere Reihe von Staaten befürchtet wird. So warnte der IWF-Vorsitzende Dominique Strauss-Kahn auf der Frühjahrstagung des IWF vor einer Gefährdung des Friedens und den Zusammenbruch ganzer Volkswirtschaften. Der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück sprach gar von einem Ungeheuer, welches die politische Bühne betreten habe.
Dies zeigt erneut: Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse kommt erst dann zur Sprache, wenn er so drängend wird, dass es zu politischen Unruhen kommt.
Was ist der Hintergrund für diese zu Recht drastischen Warnungen? Es ist der Anstieg der Preise für landwirtschaftliche Roherzeugnisse. Auch die BewohnerInnen der priviligierten kapitalistischen Staaten der Nordhalbkugel bekommen ihn zu spüren, wenn sie im Supermarkt tiefer für Milch und Brot in die Tasche greifen müssen. Doch für die Bevölkerung der Entwicklungsstaaten, die z.T. bis zu 80% ihres Einkommens für Lebensmittel ausgibt, wird dies schnell zu einer Frage des Überlebens. Vor allem wenn der Anstieg so rapide verläuft wie seit einem Jahr. So ist der von der UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) ermittelte Food-Price-Index innerhalb von zwölf Monaten um 57% gestiegen. Reis ist in den letzten zehn Monaten sogar um 75% teurer geworden.
Welche verheerenden Konsequenzen das hat, verdeutlicht eine Schätzung von Agrarforschern von der University of Minnesota. Sie schätzen, dass die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln um ein Prozent die Zahl der Hungernden auf der Welt um 16 Millionen vergrößert.
Als Faktoren für diesen Preisanstieg geltend gemacht werden in den Mainstream-Medien in der Regel mehrere. Die Neue Zürcher Zeitung (13.4.2008) hat diese prägnant zusammengefasst.
»Energie: Hohe Öl- und Gaspreise verteuern Produktion, Verarbeitung und Transport von Nahrungsmitteln.
Appetit: In China, Indien und anderen Schwellenländern mit hohem Wirtschaftswachstum ändern sich die Ernährungsgewohnheiten. Je größer die Nachfrage nach Fleisch, desto mehr Getreide wird verfüttert.
Urbanisierung: Das verfügbare Ackerland schwindet, die Zahl der urbanen Konsumenten steigt. Ende 2008 werden laut Uno erstmals über 50 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben.
Biotreibstoffe: Industrienationen fördern die Produktion von Biotreibstoffen, um ihre Abhängigkeit vom Erdöl zu mindern. Auf immer mehr Feldern wächst statt Nahrung Rohmaterial für Treibstoff.
Wetter: Hurrikane, Überschwemmungen, Dürreperioden: Umweltkatastrophen, ob vom Menschen mitverschuldet oder nicht, sorgen für Ernteausfälle.
Spekulanten: An der Börse versuchen Investoren, von der starken Nachfrage nach Agrarprodukten zu profitieren. Oft treibt dies die Preise weiter hoch.
Vorräte: Viele Staaten haben ihre Getreidevorräte aufgebraucht und sich von Importen abhängig gemacht.«
Doch diese Aufzählung vernachlässigt entscheidende Aspekte. Einerseits hat die jahrzehntelange neoliberale Politik von IWF und Weltbank mit ihren Strukturanpassungsprogrammen dafür gesorgt, dass die landwirtschaftliche Produktion der Kleinbauern der Südhalbkugel einseitig auf den Export ausgerichtet wurde. Gleichzeitig wurden die Agro-Konzerne subventioniert, die ihre Überschussproduktion in die »Dritte Welt« exportierten. Die Folge: die Vernichtung der dortigen lokalen Produktion, da diese nicht mit den Weltmarktpreisen konkurrieren konnte. Im Gefolge dieser Prozesse haben weltweit 20 bis 30 Millionen Menschen ihr Land verloren.1
Zudem wird noch nichts darüber ausgesagt, welches Gewicht den einzelnen Faktoren zukommt, die insgesamt zu dem Bild des »perfekten Sturms« beitrugen, mit dem die Direktorin des Welternährungsprogramms, Josette Sheeran, die jüngsten Ereignisse charakterisierte. Und die Experten sind sich derzeit auch nicht einig, ob eine Gewichtung der einzelnen Faktoren überhaupt sinnvoll ist. Um das an einem Beispiel zu problematisieren: Sicher trifft es zu, dass die Nachfrage in China und Indien nach Fleisch steigt. Doch wird dabei übersehen, dass die dortige Fleischproduktion zum Teil auch für europäische und US-amerikanische Konsumenten erfolgt. So führt China mehr Fleisch aus, als es importiert und das Land deckt seinen Bedarf an den meisten Getreidesorten selbst. Mehr noch: Weizen und Mais werden sogar exportiert.2 So ist das China-ist-uns-alles-weg-Argument wohl eher einem westlichen Unbehagen über den Aufstieg dieses Staates geschuldet. Denn: Die entwickelten Länder dieser Erde verbrauchen immer noch ein Vielfaches an Fleisch und Energie als die Schwellenländer. Würde in Europa und den USA nur auf drei Prozent des Fleischkonsums verzichtet, so könnte man mit dem eingesparten Getreide etwa eine Milliarde Menschen ernähren. Vor Augen halten muss man sich auch die verheerende Kalorienbilanz der Fleischproduktion. Um ein Kilo Fleisch zu produzieren, benötigt man sieben Kilo Getreide als Futtermittel. Hinzu kommt, wie der emeritierte Agronomieprofesser Marcel Mazoyer mit dem abgeklärt nüchternen Blick eines Wirtschaftshistorikers zeigt, dass die Nachfrage schon seit 200 Jahren stetig um ca. zwei Prozent pro Jahr steigt. Von einer aktuellen Explosion der Nachfrage könne insofern keine Rede sein. Im Gegenteil: Insgesamt steigt die Nachfrage nach Nahrungsmitteln heute weniger stark als noch vor 30 Jahren.3
Die jetzige Preisexplosion muss also eine andere Ursache haben – und diese hat mit der Funktionsweise des von Menschen gemachten kapitalistischen Weltmarktes zu tun. Durch den kapitalistischen Mark und der (neo)liberalen Ideologie des Freihandels werden völlig unterschiedliche Landwirtschaften zueinander in Konkurrenz gesetzt. Somit ist die Preisexplosion, so Mazoyer, eine direkte Folge der tiefen Preise. Denn was geschieht, wenn die Weltmarktpreise – wie in den letzten Jahren – niedrig sind? Es wird weniger investiert und irgendwann können die Erträge nicht mehr mit der steigenden Nachfrage mithalten. Dann wird versucht, das Getreide noch aus den entlegensten Regionen dem Markt einzuverleiben, die Preise steigen und können von einem Teil der Bevölkerung nicht mehr bezahlt werden.
Diesen Prozess hat schon der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi beschrieben: »Die Schwierigkeit bestand jedoch darin, dass die Menschen nicht in der Lage waren, die rapide angestiegenen Getreidepreise zu bezahlen, die sich auf einem freien, aber schlecht organisierten Markte als Reaktion auf den Mangel einstellen mußten.«4
Mit Blick auf die aktuelle Entwicklung führt Mazoyer dieses Argument fort: Das schwankende Angebot führt z.B. aufgrund von Witterungsverhältnissen zu Marktungleichgewichten, die die Preise schwanken lassen. Solche Schwankungen sind bereits innerhalb eines Landes erheblich, jedoch noch tausendmal schlimmer, wenn die ganze Welt ein einziger Markt ist. Mazoyer plädiert insofern dafür, die Preise überall auf der Welt gemäß den dort herrschenden Produktionsbedingungen festzulegen.
Auf diese Weise und durch die Erschließung von Landreserven, einer nachhaltigen Landwirtschaft , die den Prinzipien der Ernährungssouveränität folgt, wie es von der internationalen Bewegung der Kleinbauern und Landarbeiter Via Campesina vertreten wird, könnten wie – zahlreiche Studien belegen – eine Verdoppelung der Erträge erreicht und die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sichergestellt werden. Allerdings: Mit dem Anbau von Getreide für Agrotreibstoffe, deren Ökobilanz sowieso mehr als zweifelhaft ist, und einem Fleischkonsum auf heutigem Niveau wird das wohl kaum gelingen.
Kurzfristig gilt es natürlich, die Betroffenen vor dem drohenden Hungertod zu bewahren. Dazu sind Hilfslieferungen, wie sie etwa vom IWF in Höhe von 500 Millionen zugesagt wurden, unerlässlich. Doch langfristig werden sie zum Teil des Problems, weil auf diese Weise die lokale Produktion untergraben wird. Langfristig führt an einer grundlegenden Veränderung der internationalen Handels- und Agrarpolitik kein Weg vorbei.
Darüber hinaus besteht in der jetzigen Situation der hohen Lebensmittelpreise die Gefahr, dass die internationalen Agro-Konzerne die Katastrophe nutzen, um sich zusätzliche Bodenflächen zulasten der Kleinbauern anzueignen. So wird die industrialisierte Landwirtschaft, die mit einer fortschreitenden »ursprünglichen Akkumulation« einhergeht, fortgeschrieben.6 Dagegen gilt es ein Verständnis von Hunger(katastrophen) stark zu machen, welches diese – wie Mike Davis es in Anschluss an Michael Watts eindrucksvoll in »Die Geburt der Dritten Welt« gezeigt hat – immer auch als Terrain für Klassenkämpfe betrachtet.7
Anmerkungen
1) Vgl. Philip McMichael, Feeding the World: Agriculture, Development and Ecology, in: Socialist Register 2007. Coming to terms with Nature, London/New York/Halifax 2007, S. 175.
2) http://www.zeit.de/online/2008/17/nahrungskrise-china-klima-gentechnik
3) Marcel Mazoyer, Eine hellgrüne Revolution. Interview mit Marcel Hänggi, in: WOZ. Die Wochenzeitung, 3.4.2008.
4) Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978, S. 221.
5) Vgl. Uwe Hoering, Agrar-Kolonialismus. Eine andere Landwirtschaft ist möglich, Hamburg 2007.
6) Vgl. hierzu John P. Neelsen, Landwirtschaft und Ernährung – Stundenglas der kapitalistischen Produktionsweise, in: Helmut Arnold/Gert Schäfer (Hrsg.), Dann fangen wir von vorne an. Fragen des kritischen Kommunismus, Hamburg 2007, S. 171-190.
7) Vgl. Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin 2004, in dem Davis beschriebt, wie die verheerenden Hungerkatastrophen Ende des 19. Jahrhunderts nicht allein auf Naturkatastrophen zurückzuführen sind, sondern auf das Zusammenspiel der ersten Welle der kapitalistischen Globalisierung und der Integration der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft in den Weltmarkt.
(aus: Sozialismus 5/2008)